Astrella 02 - Brudernacht
die Frau neben ihm. Sie hatte geschickte Finger. Tim hätte am liebsten losgeheult vor Wut über diese erniedrigende Prozedur, als er spürte, wie sich sein Glied langsam aufrichtete.
Julia konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Die ganze Bande hatte sich inzwischen im Halbkreis zu Boden gesetzt, als wären sie ein Publikum, das auf den Beginn der Vorstellung wartete. Julia ahnte, dass ihr und Tim die schlimmsten Stunden ihres Lebens bevorstanden. Trotzdem musste sie versuchen, standhaft zu bleiben. Wenn sie einen entschlossenen Eindruck erweckte, überlegte die Bande es sich eventuell noch. Womöglich erwarteten sie ja keinen Widerstand von ihr. Sie musste Zeit gewinnen. Unter Umständen gelang es ihr auch, die beiden Frauen auf ihre Seite zu ziehen. Es konnte nicht sein, dass Frauen imstande waren, so etwas mitzumachen. Männer ja, das wusste man. Aber Frauen? Niemals!
»Lasst uns doch bitte gehen«, bat Julia und bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. Der Anführer ließ sich nicht davon beeindrucken.
»Zieh dich aus.«
»Nein!« Julia wunderte sich selbst über ihren so plötzlich aufflammenden Mut. Da sah sie den Anführer aufstehen. Es wirkte lässig und unheilverkündend zugleich. Im ersten Augenblick dachte sie noch, er wolle zu ihr kommen, und spannte unwillkürlich alle Muskeln an. Doch der Mann ging die wenigen Schritte zu Tim, hob in aller Seelenruhe und doch viel zu schnell, als dass Julia es begreifen und reagieren konnte, seinen Baseballschläger und ließ ihn mit voller Wucht gegen Tims rechtes Schienbein krachen. Selbst das Klebeband konnte den Schrei ihres Freundes nicht gänzlich unterdrücken, der sich wie ein Tier auf dem an dieser Stelle steinigen Untergrund wälzte. Julia sprang auf und stürmte auf ihren Freund zu, wollte sich über ihn werfen, um ihn zu schützen. Doch noch bevor sie ihn erreicht hatte, waren die Frau neben dem Anführer und der Mann mit der giftig klingenden Stimme auf den Beinen und hielten sie auf. Julia schlug wild um sich, sie hörte das grölende Lachen der anderen, und es war die Frau, die ihr so kräftig in den Magen schlug, dass ihr die Luft wegblieb. Der Mann hingegen riss ihr das T-Shirt entzwei und stieß sie nach hinten auf ihren Platz zurück. Von den Männern drangen anzügliche Bemerkungen an ihr Ohr. Währenddessen wandte sich der Anführer wieder ihr zu.
»Zieh dich aus!«
»Aber langsam«, fügte die Giftstimme hinzu.
Und da gab Julia auf.
Astrella entschloss sich, an einem der nächsten Tage nach Preschingendorf zu fahren. Unter Umständen konnte er dort ja etwas über Klimnich erfahren, wovon seine Frau nichts ahnte. So viele Menschen hatten ihre eigenen, kleinen Geheimnisse, warum nicht auch der alte Klimnich? Überdies war es besser, als untätig herumzusitzen und sich verrückt zu machen. War der Täter hingegen ein Psychopath, wovon Astrella insgeheim überzeugt war, sah er ziemlich schwarz für sein Bemühen, ihm alsbald auf die Spur zu kommen.
Mit diesen Gedanken betrat er das Kulturzentrum ›Linse‹ in Weingarten. Nachdem er in den letzten Tagen von angenehmen Ereignissen nicht gerade überrollt worden war, hatte er Lust auf eine Komödie. Als er die Werbung für den neuen Bertrand Blier-Film WIE SEHR LIEBST DU MICH? mit Monica Bellucci und Gérard Depardieu entdeckte, war die Entscheidung gefallen.
9
Als es das Knurren zum ersten Mal hört, ist es fasziniert davon und will es streicheln.
»Wauwau«, sagt es und zeigt mit seiner kleinen rechten Hand auf den Schäferhund des Hausmeisters, der abseits des Sandkastens im Rasen liegt. Doch das Knurren wird lauter und macht ihm Angst. Trotzdem schreit es nicht.
»Hast du das gesehen?« fragt Schwester Heidrun Schwester Benedikta. Diese, selbst erstaunt, nickt nur.
»Das muss ich Schwester Kordula erzählen.«
Schwester Benedikta nickt abermals. Und reagiert viel zu langsam, als das Kind das blaue Schäufelchen nimmt und der gleichaltrigen Dorothea ins Gesicht schlägt. Blut dringt aus der Wunde knapp oberhalb des rechten Backenknochens, und die kleine Dorothea brüllt. Schwester Heidrun stürzt sich auf das Kind, reißt ihm die Schaufel aus der Hand, versetzt ihm eine schallende Ohrfeige und nimmt Dorothea in ihre Arme, um sie zu trösten. Ihr Wehgeschrei übertönt jedes andere Geräusch. Nur das Schreien des Kindes käme dagegen an. Doch das Kind schreit nicht. Es hält sich still die Wange, auf der sich das rote Abbild von Schwester Heidruns Hand
Weitere Kostenlose Bücher