Astrella 02 - Brudernacht
verliehen.
Wie üblich fuhr Obst, während Eck versuchte, es sich auf dem durchgesessenen Beifahrersitz bequem zu machen. Sie waren noch keinen Kilometer gefahren, als er unvermittelt langsamer fuhr und auf eine Landstraße, weg von der Stadt, einbog.
»Was ist los?«, fragte Eck erstaunt.
»Ich möchte jetzt endlich wissen, was mit Astrella los ist. Gut, ich weiß, dass er dein Freund ist. Aber warum wurde er entlassen und hat im Knast gesessen?«
»Du bist aber neugierig, junger Kollege.«
»Warum? Ist das etwa ein Staatsgeheimnis? Oder, wenn du schon auf mein Alter anspielst, alter Mann, nicht jugendfrei?«
Eck lachte leise auf und schaute auf die vorbeikriechende Landschaft.
»Los, komm – erzähl! Ich will jetzt endlich Bescheid wissen. Hat er jemanden umgebracht?«
»Nein! Und sag so was nie mehr! Denk nicht mal dran!«
Obst warf seinem Kollegen einen raschen Blick zu, sagte aber nichts. Minutenlang schwiegen beide.
Unterdessen ahnte Eck, dass er seinem jungen Partner Astrellas Geschichte erzählen sollte. Es gab keinen vernünftigen Grund dafür, es nicht zu tun. Der Fall war damals durch die gesamte deutsche Presselandschaft gegangen. Eck wusste selbst nicht, warum er dieses Thema mied.
»Es war wegen eines Kindermörders. – Vielleicht hast du es in der Zeitung gelesen. Ein 44-jähriger Mann hatte eine 12-jährige Tramperin mitgenommen. Er fuhr mit ihr in einen Wald, wo er sie vergewaltigte. Mehrfach und äußerst brutal. Das gerichtsmedizinische Gutachten ergab, dass die Vagina des Mädchens mehr oder weniger zerfetzt war. Sie muss Schmerzen gehabt haben, die man sich nicht vorstellen kann. Entsprechend hat sie geschrien. Und weil sie geschrien hat, hat der Mann sie laut seiner eigenen Aussage getötet. Mit 37 Messerstichen. Die Gutachter sind da sehr genau. Louis bekam den Fall auf seinen Tisch. Damals war er bereits Leiter des Morddezernats. Er bildete eine Sonderkommission und los ging die Arbeit. Du kennst das ja. Louis ging der Mord wahnsinnig an die Nieren. Wegen Sandra.«
»Sandra?«
»Sandra ist seine Tochter. Sie ist jetzt, warte mal, ja, sechzehn, war damals also so alt wie das Mädchen. Louis konnte sich nicht von der Vorstellung lösen, sein Kind hätte das Opfer sein können. Einer vom Streifendienst hat das Mädchen gefunden, halb vergraben unter einem Gebüsch. Wie weggeworfener Müll. Nachdem Louis das tote Mädchen gesehen hatte, war er selbst zu den Eltern gegangen und hat ihnen die Nachricht überbracht. Drei Wochen später hatte Louis den Mann. Er fuhr mit einem Kollegen zum Haus des Verdächtigen, einem Familienvater mit drei Kindern zwischen vierzehn und einundzwanzig Jahren. Als sie hinkamen, rannte der Mann gerade aus dem Haus. In der Hand hielt er ein Messer. Louis stürmte ihm mit gezogener Pistole hinterher. Als der Mann keine Fluchtmöglichkeit mehr sah, machte er auf dem Absatz kehrt und stürzte sich auf Louis. Louis hätte ihn problemlos mit einem Schuss in die Beine aufhalten können. Louis ist ein hervorragender Schütze, er war dreimal Polizeilandesmeister. Aber er schoss ihm nicht in die Beine, nein. Er gab einen Schuss mitten ins Herz ab. Der Mann war sofort tot.«
Manfred Eck schwieg und starrte weiter zum Fenster hinaus, ohne etwas von der Landschaft wahrzunehmen.
»Aber war das nicht Notwehr?«, fragte Obst nach einer Weile.
»Nein. Ich hatte damals extra Urlaub genommen, um bei der Gerichtsverhandlung dabei sein zu können. Zwei Zeugen sagten aus, Louis hätte vollkommen ruhig gewirkt, als er zielte und dann abdrückte. Als hätte er auf eine Zielscheibe angelegt.«
»Und Astrella?«
»Louis schwieg die meiste Zeit während der Verhandlung. Und als er auf die Frage des Richters, ob er den Tod des Mannes bedaure, antwortete, er bedaure nur das abgeschlachtete Mädchen, mussten sie ihn verurteilen.«
Obst schüttelte ungläubig den Kopf. »Das hat er gesagt, obwohl er wissen musste, was dann passiert?«
»Ja«, antwortete Manfred mit einer Stimme, die keinen Zweifel daran ließ, dass er keine Lust hatte, noch länger darüber zu sprechen.
19
Seine Suche im Gerichtsarchiv war erfolglos verlaufen. Astrella war zwar ein wenig enttäuscht, aber nicht überrascht. Solange er nicht wusste, um wen es sich bei der Patientin handelte und woher sie kam, war nicht sicher, ob das hiesige Familiengericht zuständig gewesen war und Akten führte.
Nun saß er bereits seit einer Stunde in der Praxis von Klimnichs Nachfolger. Nachdem Frau Klimnich den jungen
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