Astrella 02 - Brudernacht
er darauf einging. Wahrscheinlich war es tatsächlich am besten, wenn sie aus Ravensburg, aus dieser Gegend überhaupt fortzogen. Aber solch ein Schritt bedeutete eben auch: Entscheidungen treffen! Bisher hatte er Maxi damit beruhigen können, von seinen Plänen zu erzählen. Dabei wusste er selbst gut genug: Ihm fehlte der Ehrgeiz, sie zu verwirklichen. Sein Leben in den vergangenen Jahren war bequem gewesen. Er hatte sich treiben lassen, nahm alles, wie es kam, ohne selbst Entscheidungen zu treffen. Micha bedauerte insgeheim, dass Maxi sich nicht mit seiner Einstellung zum Leben anfreunden konnte oder wollte. War überhaupt mit einer Änderung zu rechnen? Micha bezweifelte es. Alles, was vom Gewohnten abwich, verunsicherte ihn. Wenn nur nicht diese verdammte Liebe gewesen wäre! Andere wurden durch sie in den Ruin oder gar Tod getrieben, zumindest aber in Depressionen. Und er? Er hatte alle Aussicht auf eine Verbesserung seiner bisherigen Situation. Die Welt war verrückt.
»Friedrichshafen?«, versuchte er unbestimmt zu bleiben. »Da ist doch nichts los.«
»Ich kann diese Typen nicht mehr sehen! Vor allem diesen Dreckskerl nicht.«
»Aber er hat dir doch gar nichts getan«, bemühte sich Micha, sie zu beruhigen.
»Ach, willst du ihn jetzt auch noch in Schutz nehmen?«
»Nein, natürlich nicht«, widersprach Micha mit lahmer Stimme. Er wusste, es gab jetzt kein Halten mehr für Maxi. Dabei hatte der Morgen so schön angefangen. Nach einer kurzen Nacht hatte er ihrem Drängen nachgegeben, an ihrem letzten Urlaubstag einen Stadtbummel zu machen. Maxi war gern unter Leuten. Es machte ihr Spaß, andere zu beobachten und ihn auf alltägliche Dinge aufmerksam zu machen, für die er bisher keinen Blick gehabt hatte. Sie konnte sich für eine Schaufensterdekoration begeistern oder ein Kind trösten, dessen Eiskugel herabgefallen war. Er hingegen fand auch jetzt noch nicht den geringsten Gefallen an einem auf der Straße zerplatschten Eis, das Minuten später von irgendeinem Hund aufgeleckt wurde. Aber darum ging es nicht, das war ihm klar. Alle diese Kleinigkeiten standen eher symbolisch für eine Art zu leben, die es bisher für ihn nicht gegeben hatte. Das war einfach etwas anderes als der Diebstahl der Nachbarszeitung zweimal in der Woche, von dem dieser offenbar wusste, wenn Micha seine vorwurfsvollen Blicke richtig deutete. Oder das regelmäßige Versumpfen im ›Skin‹. Nein, das, was Maxi ihm zeigte, zeugte von einem Leben, das er von Tag zu Tag mehr zu genießen begann. Gleichzeitig trug es zu einer stärkeren Bindung an Maxi bei. Er spürte eine winzige Faser der Angst, sie könnte ihn verlassen. Und er wusste, dass er dann in seine leblose Vergangenheit zurückfallen würde. Manchmal, wenn sie nicht bei ihm war, dehnte sich diese Faser über seinen ganzen Körper aus. Dann konnte er es nicht mehr erwarten, bis sie sich wieder trafen und er sie fest umschlingen konnte.
»Oder willst du etwa sagen, du hättest seinen gierigen Blick nicht bemerkt?«, ließ Maxi nicht locker. Micha zog es vor, nicht darauf zu antworten.
»Ich bin sicher, dass der bei der erstbesten Gelegenheit über mich herfallen wird, um das nachzuholen, was ihm damals nicht möglich war. Ich fühle mich jetzt noch wie der letzte Dreck, wenn ich ihn nur sehe.«
»Na ja, aber den steckst du doch mit links in die Tasche«, versuchte Micha sie aufzumuntern.
»Klar stecke ich diesen Möchtegern-Capone mit links in die Tasche. Aber darum geht es doch gar nicht.«
»Worum dann?«
»Ich habe nicht die geringste Lust, künftig jederzeit damit rechnen zu müssen, einem von diesen Typen über den Weg zu laufen.«
»Jetzt übertreib nicht, Maxi. So klein ist Ravensburg nun auch nicht mehr.«
»Soll das in Zukunft deine Standardausrede dafür werden, in deinem Leben alles so zu lassen, wie es ist?«
Klar hatte sie recht. Langsam aber sicher freundete sich Micha mit dem Gedanken an, zu seinem Vater zu gehen und ihn um Hilfe zu bitten. Zweifellos würde sein alter Herr ihn spüren lassen, welche Genugtuung dieser Schritt ihm bereitete. Aber davon durfte er sich nicht abhalten lassen, sonst würde er Maxi irgendwann verlieren.
Gerade jetzt wurden sie von hinten angesprochen. Als sie sich umdrehten, erkannten sie zwei Freundinnen von Maxi, die einkaufen gingen. Sie beschlossen, gemeinsam auf einen Cappuccino in eines der Straßencafés zu gehen, die es in Ravensburg zuhauf gab und der Stadt nicht wenig von ihrem italienischen Flair
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