Asylon
mir
erzählt, wie dich Lynn und Poosah eines Tages irgendwo in der Gosse gefunden
haben, ohne dass du dich bisher daran erinnern kannst, wie du dorthin gekommen
bist oder wie dein Leben vorher ausgesehen hat.«
»Stimmt. Ich nehme an, dass mir
irgendwas Schlimmes zugestoßen ist. Gedächtnisverlust durch Schock. Amnesie
nennt man so was.«
»Tja, komisch ist nur, dass in
dieser Stadt jeder unter dieser Art Amnesie zu leiden scheint.«
»Wie meinst du das?«
»Nun …« Radu beugte sich mit
Verschwörermiene über den Tisch. »Wenn ich meine Suppe verkaufe, unterhalte ich
mich mit meinen Kunden über dies und das. Du kennst mich ja, ich bin eine alte
Tratschtante. Und seltsamerweise kann mir jeder von ihnen genaue Rechenschaft
über die letzten Wochen, Monate oder auch manchmal Jahre ablegen. Aber sobald
man fragt: Wo warst du als Kind? oder: Wie hießen deine Eltern? – nichts.« Sie
streckte die Hände aus, die Handflächen nach oben.
Saïna stellte fest, dass sie zu
den Menschen um sie herum offenbar viel zu wenig Kontakt hatte. Jedenfalls wäre
sie nie darauf gekommen, ihnen solche Fragen zu stellen.
»Vielleicht hängt es mit dem
Surge zusammen. Vielleicht sind alle davon irgendwie traumatisiert«, wandte sie
ein.
»Ach, ich bitte dich, Schätzchen.
Die große Klimakatastrophe.« Radu wackelte widerwillig mit dem Kopf. »Hat dir
irgendjemand schon mal gesagt, wann die genau gewesen sein soll? Mein Nachbar
erinnert sich nur an die letzten fünf Jahre. Bei dem Mann, der bei uns die Stromzähler
abliest, sind’s zehn. Vor einem halben Jahr taucht in unserem Viertel auf
einmal ein junger Mann auf, vielleicht fünfundzwanzig; er arbeitet jetzt im
Trödelmarkt drei Ebenen höher. Seine Erinnerung reicht gerade soweit zurück wie
sein Auftauchen hier. Zufall?«
Saïna wurde schwindlig.
Irgendetwas in ihrem Kopf weigerte sich, den Weg zu gehen, den Radu ihr
offenbar weisen wollte. Es war nicht etwa so, dass Radus Argumente keinen Sinn
ergaben. Es war nur … Hatten sie nicht genug andere Sorgen? Sie fuhr sich mit
der Hand über die Stirn, als könne sie die neu entstandenen Zweifel aus ihrem
Kopf wischen. Was immer Radu auch sagen würde, die Idee von einem Paradies in
der Außenwelt war mit Sicherheit nichts weiter als eine Illusion. Irgendwie typisch
menschlich: Die Erde war in einer Katastrophe unbewohnbar geworden, und nun
erträumten sich alle irgendwo eine Insel der Erretteten. Es war einfach zu
schön, um wahr zu sein.
»Das mag schon alles richtig
sein«, versuchte sie ihre Gedanken in Worte zu kleiden, »aber der Ordo Lucis
ist – davon bin ich überzeugt – eine Truppe übler Lügner und Betrüger.«
»Dagegen sage ich ja gar nichts.
Solange die Menschheit von einer besseren Welt träumte, gab es auch immer böse
Menschen, die versuchten, diesen Traum auszunutzen, daraus Kapital zu schlagen.
Das heißt aber noch lange nicht, dass es die bessere Welt nicht irgendwo gibt.«
Gegen diese Logik wusste Saïna
nichts mehr einzuwenden. Die beiden versanken in Schweigen.
»Ich weiß, wo man sie finden
kann«, unterbrach die Stille auf einmal eine helle Stimme. Sie gehörte dem
kleinen Hank, der unvermittelt vor dem Tisch stand.
»Wen meinst du denn, mein kleiner
Schatz?«, fragte Radu, indem sie den Kleinen ergriff und auf ihren Schoß
setzte, während auch Poosah an Saïnas Stuhl auftauchte.
»Na, diese Odoluzies«, sagte der
Kleine fröhlich und legte den Kopf in den Nacken.
Saïna zuckte zusammen. Offenbar
hatten die beiden sie belauscht. Hoffentlich hatten sie nicht zu viel gehört.
»Hör nicht auf ihn«, sagte Radu
zu ihrer Freundin. »Er hat manchmal eine blühende Fantasie.«
Saïna schwieg nachdenklich.
Eine Stunde später im
St. Niclas stieg Saïna in ihren Overall.
»Alles in Ordnung bei dir?«
Die unerwartete Ansprache ließ
ihr das Herz fast in die Hose rutschen. Sie fuhr herum. »Deake, du elende
Kakerlake! Musst du dich immer so anschleichen?«
Ihr Schichtleiter verschränkte
beide Hände auf dem oberen Ende des Besenstiels und grinste boshaft von einem
Ohr zum anderen. Sein schwarzes Gesicht war fleckig und runzlig wie eine alte
Kartoffel, aber in seinen Augen blitzten kleine Teufel. »Ist für’n alten Kerl
wie mich die einzige Möglichkeit, ein bisschen nacktes Fleisch zu Gesicht zu
bekommen, Püppchen.«
Saïna schüttelte genervt den
Kopf. »Bist ’n perverser alter Knacker, Deake.«
»Hab nie was anderes behauptet,
Püppchen.« Er stellte den Besen zur Seite und
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