Asylon
rundlichen Formen und der feinen porzellanweißen Haut
hätte sie besser als Edelfräulein in eine Ritterromanze gepasst als in dieses
dunkle Loch tief im Bodensatz der letzten Stadt des 21. Jahrhunderts.
Radu goss ein wenig von der
süßlich duftenden Flüssigkeit in die Becher und setzte sich zu ihr. Ein paar Minuten
versanken beide in den Anblick der Kinder, die aus Hanks Holzklötzchen gerade
irgendein Bauwerk errichteten.
Schließlich wandte sich Radu halb
flüsternd an Saïna. »Wie geht es ihrer Mutter?«
Saïna hätte sich fast
verschluckt. Zwar hatte sie die Frage erwartet, aber es fiel ihr immer noch
schwer, darauf zu antworten, so als würde sie Lynn mit jedem Mal, das sie es
aussprach, ein wenig mehr töten.
Wie auch
immer, sagte sie sich, Radu muss es erfahren.
»Sie ist tot«, flüsterte sie,
peinlich darauf bedacht, dass die Kinder sie nicht hörten.
»O mein Gott.« Radu schlug sich
die schmalen Hände vor den Mund, während ihr ehrliches Entsetzen im Gesicht geschrieben
stand. Ihr Mitgefühl ließ sie in Saïnas Ansehen noch einmal steigen, stand es
doch im krassen Gegensatz zu der Herablassung, mit der Lynn sie bei ihren wenigen
Begegnungen immer behandelt hatte. Wie kann diese Frau nur
alles für dieses behinderte Balg aufgeben?, hatte Lynn ihrer Freundin
damals bei ihrem ersten Besuch in Radus winzigem Reich zugezischt. Falls Radu
es mitbekommen hatte, hatte sie es sich nicht anmerken lassen, wie es überhaupt
in ihrer Natur zu liegen schien, über alles Schlechte in ihrer Umwelt
hinwegzusehen, als existierte es gar nicht. Ihre manchmal etwas kapriziöse Art,
die sie besonders dann entwickelte, wenn attraktive Männer in der Nähe waren,
verzieh man ihr dafür gern.
»Was ist passiert?«, wollte Radu
wissen.
Im funzeligen Schein der
Deckenleuchte erzählte Saïna das Wenige, das sie wusste. Was sie über Lynns
Verbindungen zum Ordo Lucis gehört hatte, wie Poosah sie morgens aufgeweckt
und gesagt hatte, dass ihre Mutter auf und davon sei, wie sie Lynns Leiche in
der Pathologie entdeckt und was sie von Scooter erfahren hatte.
»Hast du es der Kleinen schon
erzählt?«, fragte Radu.
Saïna schüttelte peinlich berührt
den Kopf. Sie hatte es bisher einfach nicht übers Herz gebracht und verfluchte
sich selbst für ihre Feigheit.
»Das ist gut so. Du wirst wissen,
wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist.«
Saïna war ehrlich überrascht von
Radus Reaktion. Aber dann ging ihr auf, dass ihre Freundin wohl recht hatte. Es
gab einfach zu viele offene Fragen hinsichtlich Lynns Tod, Fragen, die Poosah
ihr stellen würde und die sie nicht beantworten konnte. Sie war auf einmal sehr
erleichtert und fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
»Oh, Schätzchen. Das muss auch
für dich alles ganz furchtbar sein. Jeder wusste, wie nah ihr zwei euch
standet.« Radu legte begütigend einen Arm um Saïnas Schultern.
Für einen Moment hatte Saïna den
unsinnigen Impuls, näher an die Freundin heranzurücken und den Kopf an die
einladenden Rundungen von Radus Busen zu legen. Stattdessen wischte sie sich
das Wasser aus den Augen und nickte verlegen.
»Was denkst du, ist passiert?«,
fragte Radu. Kleine Falten kräuselten ihre Stirn.
Saïna zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall ist sie diesmal endgültig dem Falschen
begegnet, so viel steht wohl fest.«
»Du darfst ihr nicht böse sein,
Schätzchen«, sagte Radu, der Saïnas Sarkasmus nicht entgangen war. »Ich glaube,
sie hat unter all dem«, sie ließ die Hand in einem vagen Bogen durch die Luft
über dem Tisch fahren, »mehr gelitten als du und ich.«
»Das ist kein Grund, ihr eigen
Fleisch und Blut zurückzulassen wie ein altes Paar Schuhe.«
»Nein. Sicherlich nicht.«, sagte
Radu, während sie gedankenvoll zu den Kinder sah.
»Was mich am meisten ärgert, ist,
dass sie möglicherweise genau diesem Hokuspokus zum Opfer gefallen ist, vor dem
ich sie immer gewarnt habe«, sagte Saïna.
»Was meinst du?«
»Diesen Ordo Lucis und diesen
ganzen Unsinn von einem Paradies jenseits der Grenze.«
Radu zog die Augenbrauen hoch.
»Du glaubst nicht daran?«
»Natürlich nicht«, antwortete
Saïna empört. »Du etwa?«, fügte sie dann etwas vorsichtiger hinzu, als sie
Radus grübelnden Blick gewahrte.
»Hmmm. Ich weiß nicht. Es gibt da
vieles in unserer Welt, was mir Rätsel aufgibt.«
»Was denn zum Beispiel?«
Radu überlegte kurz.
»Erinnerung«, sagte sie dann. »Oder eben fehlende Erinnerungen. Du hast
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