Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Asylon

Asylon

Titel: Asylon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Elbel
Vom Netzwerk:
wissen, dass er einen solchen vor sich hatte. Und er wusste ebenso genau,
wie man mit diesen Typen umgehen musste, wenn man etwas von ihnen wollte. Der
Arzt war nach vorn gestolpert, als Torn in seinen Rücken gelaufen war. Nun
machte Torn einen Schritt auf ihn zu, sodass sich ihre Nasen fast berührten.
Sein Gegenüber stank nach Angstschweiß.
    Gut so, dachte Torn.
    »Fliehen Sie etwa vor mir,
Doktor?«
    »Ja … äh … nein. Natürlich
nicht«, erwiderte der Mann. »Es ist nur so, dass ich gerade keine …«
    »Wo ist meine Frau?«
    »Wie bitte?«
    »Sie haben mich sehr gut
verstanden.«
    »Nun, ja … ich … äh …«
    Torn hörte, wie die Flügeltür
hinter ihm wieder geöffnet wurde, während der Arzt weiterhin sinnlose
Satzfetzen aneinanderreihte. Die dralle Schwester.
    »Ist alles in Ordnung, Dr.
Grosse?«, hörte er ihre Stimme bellen. »Der Herr wollte leider nicht auf mich
hören.«
    »Ich und der Doktor haben alles
im Griff«, antwortete Torn, ohne sich umzudrehen. »Ist es nicht so, Doc?«
    Torn konnte im Blick des Arztes
erkennen, dass dieser zwischen seinem Status als Autoritätsperson und dem impulsiven
Bedürfnis, die Schwester um Hilfe zu bitten, hin- und hergerissen war. Er ließ
ihn keine Sekunde aus den Augen.
    Schließlich winkte der Arzt mit
einer resignierten Geste die Schwester davon. »Ja, es ist alles in Ordnung.
Gehen Sie wieder an Ihre Arbeit«, sagte er, um dann, offenbar einem
Geistesblitz folgend, hinzuzufügen: »Sagen Sie unserem Gast, dass ich für den
Moment verhindert bin.«
    »Sehr wohl.«
    Befriedigt hörte Torn, wie die
Schwester hinter ihm davonging.
    »Herzlichen Dank. Ich freue mich,
dass Sie sich der Situation gewachsen fühlen«, sagte er zu dem Mediziner. »Und
nun zurück zu meiner Frage.« Er betonte jedes einzelne Wort, als er fortfuhr:
»Wo – ist – meine – Frau?«
    »Vielleicht wollen wir uns
irgendwo hinsetzen, zum Beispiel in meinem Büro«, schlug der Arzt vorsichtig
vor.
    So so. Setzen
also.
    Demnach wollte man ihm schlechte
Neuigkeiten mitteilen. Die Mischung aus Angst und Zorn, die er schon seit einer
Weile verspürte, begann in seinen Eingeweiden zu rumoren. Warum sagte ihm der
Kerl nicht einfach, was los war? Noch schlimmer als bisher konnte es wohl kaum
noch werden.
    »Nein. Sitzen ist tatsächlich das
Letzte, was ich jetzt will. Machen Sie es kurz und schmerzlos – ich habe heute
wirklich wenig Zeit.«
    »Nun ja …« Der Blick des Arztes
begann wieder zwischen ihm und dem imaginären Fluchtpunkt zu pendeln. »Vielleicht
wäre es aber wirklich besser …«
    Torns Geduld näherte sich dem
Nullpunkt. Irgendwie fand seine Hand den Weg in seine Beintasche, zog die Pistole
daraus hervor und setzte die Mündung dem Arzt an die Schläfe.
    »W-was soll das? Was tun Sie da?
Sind Sie wahnsinnig?«, schrie der Mann. Die Adern an seinen eingefallenen
Schläfen wollten ihm förmlich aus dem Schädel platzen.
    Im schwach beleuchteten Ende des
Ganges hinter dem Arzt steckten ein paar Patienten und Pfleger die Köpfe durch
die Flügeltüren, die zu den einzelnen Stationen führten, zogen sie aber sofort
wieder ein, als sie die Situation erfassten. Eine Reinigungskraft, die gerade
aus einem der anliegenden Räume gekommen war, schob beim Anblick der Pistole in
Torns Hand ihren Wagen eilig um die nächste Ecke und verschwand. Der Korridor
war jetzt leer.
    »Bleiben Sie jetzt ganz ruhig«,
flüsterte Torn. »Beantworten Sie einfach nur meine Frage, und niemandem geschieht
etwas. Ich frage jetzt noch genau ein Mal: Wo ist meine Frau?«
    Statt eine Antwort zu geben,
schielte der Arzt nur die Kanone an seiner Schläfe an.
    Torn spannte den Hahn, der mit
hörbarem Klicken einrastete. »Ich zähle bis drei. Eins …«
    »Tot! Sie ist tot!«, schrie der
Arzt.
    Die Worte verhallten.
    Stille.
    Der Arzt begann mit den Zähnen zu
klappern.
    Die Pistole wurde Torn auf einmal
geradezu unendlich schwer, zog seine Hand förmlich nach unten.
    »Was haben Sie gerade gesagt?«,
sagte irgendeine Person, die sich seine Stimme geliehen haben musste.
    »Es tut mir leid«, stieß der
Doktor heiser hervor, während ihm der Schweiß in breiten Rinnsalen die kahlen
Schläfen hinunterfloss. Der Geruch von Urin lag in der Luft. »Sie … sie hat
sich heute Nacht in den Schacht des Krematoriums gestürzt. Man fand ihren
Kittel vor der offenen Luke. Ich … ich kann es Ihnen zeigen.«
    Für einen Moment hatte Torn eine
Vision von Yvette vor Augen, wie sie in eine gähnende Tiefe fiel, ihr

Weitere Kostenlose Bücher