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Asylon

Asylon

Titel: Asylon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Elbel
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nie
gesehen.«
    »Ich bin Marcia Tripplehorn, die
neue Büroleiterin des Gouverneurs«, sagte sie in einem merkwürdig gedehnten,
fast singenden Tonfall, und fuhr sich dabei mit der Hand über die Stirn; Torn
fiel auf, dass irgendetwas mit der Hand nicht stimmte. Sie war auffällig
schmal, irgendwie zu schmal.
    Dann rieselte ihm die Erkenntnis
kalt über den Rücken. Sie hatte nur vier Finger. Der kleine Finger fehlte ganz.
Nicht einmal ein Stumpf war zu sehen. Stattdessen zog sich eine wulstige, rote
Narbe von ihrer Handwurzel bis zum Ringfinger. Die Verletzung mochte ein paar Wochen
alt sein.
    Er fühlte ihren Blick und wurde
sich bewusst, dass er ihre Hand, die sie längst wieder auf die Tischplatte
hatte sinken lassen, schon etliche Sekunden lang unverwandt anstarrte. Das Blut
stieg ihm ins Gesicht, und schnell sagte er: »Ich bin hier, weil ich den
Gouverneur in einer wichtigen Angelegenheit sprechen muss.«
    »Aha«, sagte sie unberührt, so
als ob sie das überhaupt nichts anginge. Sie schaute ihn nur mit leicht
glasigem Blick an. Ihr Gesicht war bleich. Viel zu bleich. Blutleer. Als würde
sie schon immer in diesem Keller sitzen. Schwankte sie leicht, oder war es das
gedämpfte Licht der Deckenleuchte, das diesen Eindruck vermittelte?
    »Wo sind ihre ganzen Kollegen
hin?«, fragte Torn neugierig.
    »Kollegen hin?«, echote sie
träumerisch.
    »Ja, Sie wissen schon, die ganzen
anderen Angestellten, draußen in den Büros. Ich habe niemanden gesehen. Vor
zwei Jahren wimmelte es hier noch vor Arbeitskräften.«
    »Oh, die.« Sie wischte mit einer
fahrigen Geste ihrer vierfingrigen Hand durch die Luft. »Sie sind abberufen
worden. Jeder Einzelne von ihnen.«
    »Abberufen?« Torn konnte sich auf
diese seltsame Antwort keinen Reim machen.
    »Ja, vom Gouverneur persönlich.
Wissen Sie«, sie senkte die Stimme und zwinkerte ihm vertraulich zu, »die arbeiten
jetzt alle in höherer Position.«
    »Aha.«
    Er gab es auf, irgendeinen Sinn
in ihren Antworten zu suchen. Vanderbilt würde ihm sicherlich alles erklären.
Wo hatte der Gouverneur dieses blonde Gespenst nur aufgetrieben? Fast schien es
ihm, als stünde sie unter dem Einfluss irgendwelcher Drogen. Er beschloss, dass
es sinnvoller war, sein Anliegen noch einmal vorzutragen.
    »Wie bereits gesagt, bin ich
hier, um den Gouverneur zu sprechen. Mr. Vanderbilt und ich sind seit Jahren
eng bekannt. Denken Sie, er könnte vielleicht ein paar Minuten seiner kostbaren
Zeit für mich erübrigen?«
    »Oh.« Ihre Stirn schlug Falten.
»Ich bin nicht sicher.«
    »Wie wäre es dann, wenn Sie
einfach fragen?«
    »Er lässt sich nur sehr ungern
stören«, entgegnete sie mit einem ängstlichen Unterton, während ihr Blick
nervös durch den Raum zuckte, als vermute sie irgendwo ein verstecktes Monster.
    »Hören Sie, ich habe sehr
wichtige Neuigkeiten.«
    »Wichtige Neuigkeiten?«,
wiederholte sie mit gequältem Gesichtsausdruck.
    »Ja. Ich könnte mir sogar
vorstellen, dass der Gouverneur höchst ungehalten wird, wenn er diese
Nachrichten nur mit Verzögerung erfährt, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    »Wirklich? Denken Sie? Nun ja,
dann muss es wohl sein …« Mit einer weit ausholenden Bewegung, fast als ob es
sich um eine Art von Ballett handelte, senkte sie den Zeigefinger auf den Knopf
einer ältlichen Gegensprechanlage. »Mr. Vanderbilt, Sir?«
    Die Anlage antwortete mit einem
monotonen Rauschen.
    »Mr. Vanderbilt«, wiederholte sie
in ihrem Sekretärinnen-Sing-Sang.
    Rauschen.
    Dann … etwas anderes.
    Torns Nackenhaare sträubten sich.
»Haben Sie das gehört?«
    »Was meinen Sie?«, fragte die
Sekretärin irritiert.
    »Dieses Geräusch. Es klang fast
menschlich. So wie ein Schluchzen oder …«
    »Oh, das.« Sie winkte ab. »Der
Gouverneur befindet sich in einer Sitzung.«
    »Das klang kaum wie eine Sitzung.
Das klang eher so, als ob jemand in Gefahr ist. Vielleicht wurde der Gouverneur
angegriffen.«
    »Sir, ich darf Ihnen versichern
…«, begann sie müde, doch just in diesem Moment wurde die Tür zum Büro des
Gouverneurs einen Spaltweit geöffnet, und Vanderbilts Kopf erschien, das
Gesicht aschfahl trotz seiner dunklen Hautfarbe. Auf seiner schmalen Stirn
perlte Schweiß.
    »Marcia. Ich hatte ausdrücklich
darum gebeten, nicht gestört zu werden.«
    Verwundert bemerkte Torn, dass
die Sekretärin auf einmal mit den Zähnen klapperte. Es war absurd. Wovor hatte
sie nur solche Angst?
    »Verzeihung, Sir. Der junge Herr
hier hat auf eine Unterredung mit Ihnen

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