Asylon
ist das, wenn man seine Position
als Anführer behaupten muss. Emilianos Tod war nicht durch einen Beschluss der
Clanchefs legitimiert. Egal, wie ich persönlich dazu stehen mag, würde ich mich
nicht an dir rächen, würden das die anderen Clanchefs als Schwäche deuten. Und
das käme mir momentan wirklich mehr als ungelegen. Denn, im Vertrauen gesagt,
will ich nicht nur der Obermotz aller Clanchefs sein – ich will auch die Clans
der anderen vollständig übernehmen!«
»Das ist unmöglich!«, rief Torn.
»Die Leveller würden das nie zulassen!«
»Ach, die Leveller …« Sputano
zuckte gelassen mit den Schultern. »Ihr habt euren Zenith überschritten. Es war
wirklich kein Problem, meine Machtbasis unbemerkt von euch zu erweitern.
Vanderbilt ist ja viel zu sehr mit seiner eigenen Agenda beschäftigt.«
Torn rätselte, wovon Sputano
eigentlich sprach, aber es gab für ihn momentan Wichtigeres als die Machtkämpfe
unter den Clans.
Sputano seufzte und warf ihm
einen bedauernden Blick zu. »Tut mir wirklich leid, mein Sohn. Ich hatte begonnen,
eine gewisse Sympathie für dich zu entwickeln. Wer weiß«, er hob die Hände,
»vielleicht wären wir unter anderen Umständen gute Freunde geworden.«
Offensichtlich hatte er sich von der Festigkeit seiner Nylonschlinge überzeugt
und war damit zufrieden, denn er trat nun hinter Torn. »Irgendwelche letzten
Worte?«
»Ich habe Emiliano nicht getötet.«
»Das sagtest du bereits.«
Die Schlinge legte sich um Torns
Hals.
»Und wenn ich einen Beweis hätte,
der auch vor den anderen Clanchefs Bestand hat.«
»Den hast du nicht, sonst hättest
du ihn bereits vorgelegt.«
Die Schlinge zog sich langsam zu.
»Ich könnte einen finden«, stieß
Torn hervor. »Sagen wir, in den nächsten vierundzwanzig Stunden. Den wahren
Mörder zu präsentieren, könnte deine Macht stärken.«
Sputano hielt inne.
Zitternd stand Saïna
vor dem Fremden, der auf dem Boden ihres Schlafzimmers lag. In der Hand hielt
sie noch den Leuchter, mit dem sie ihn kurz zuvor niedergeschlagen hatte.
»Ist das schon wieder ein neuer
Freund?«
Saïna fuhr zusammen. »Poosah! Du
hast mich erschreckt. Nein, das ist kein neuer Freund. Der Mann dort stand auf
einmal vor meinem Bett.«
»Oh.« Das Mädchen ging zu dem am
Boden Liegenden und beugte sich über ihn. Saïna schaltete die Nachttischlampe
an, die das Zimmer in orangefarbenes Halbdämmer tauchte. »Was will der Mann von
dir?«
»Keine Ahnung, Schätzchen. Ich
denke, das sollten wir ihn selber fragen. Aber vorher wollen wir ihn ans Bett
fesseln.«
Poosah schaute sie aus großen
Augen an. »Fesseln? Warum das?«
»Nun, der Mann ist einfach ohne
zu fragen in unsere Wohnung eingedrungen. Das war nicht richtig. Vielleicht ist
er böse, und dann sollten wir uns lieber vor ihm schützen.«
Poosah beäugte den Fremden, der
bäuchlings vor ihr lag, neugierig. »Er sieht nicht böse aus«, stellte sie mit
ernster Miene fest.
»Böse ist man von innen,
Schätzchen. Deswegen sehen auch nicht alle bösen Menschen böse aus. Holst du
mir die Wäscheleine aus der Küche, bitte?«
Poosah trollte sich, nicht ohne
zuvor einen weiteren Blick auf den Mann zu werfen, als wolle sie ihre frühere
Feststellung nach Saïnas Einwand noch einmal prüfen. Saïna nutzte die Gelegenheit,
um ihr Schlafshirt gegen normale Kleidung zu tauschen. Einige Sekunden später
kam Poosah mit dem gewünschten Gegenstand zurück. Saïna fesselte dem Mann
sorgfältig Füße und Hände. Dann band sie ihn am Bettgestell fest. Er fing
bereits an, leise vor sich hinzustöhnen.
»Und was machen wir jetzt?«,
fragte Poosah.
»Wir drehen ihn um«, antwortete
Saïna.
Poosah, die von der Idee offenbar
recht angetan war, zerrte und zog sofort mit kindlichem Eifer an einem der Arme
des Mannes, ohne allerdings allzu viel auszurichten. Mit vereinten Kräften
gelang es ihnen schließlich, den Fremden auf den Rücken zu drehen. Saïna
erlebte die zweite handfeste Überraschung dieser Nacht.
»Der andere Kellner«, sagte sie
fassungslos.
»Doch ein Freund von dir?«,
fragte Poosah.
»Nein, Schätzchen. Ich hab dir
doch erzählt, dass ich mit Tante Radu gestern Abend in der Bar war, wo deine
Mutter früher gearbeitet hat.«
»Ich weiß«, fiel Poosah aufgeregt
ein. »Da, wo ihr die Klauenmänner gesehen habt.«
»Genau«, bestätigte Saïna. »Und
dieser Mann hat dort gearbeitet.«
»Oh«, sagte Poosah und machte ein
nachdenkliches Gesicht. Dann hellte sich ihre Miene plötzlich auf. »Er
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