Asylon
nach
hinten? Dort musste sich irgendwo der Gouverneur aufhalten, der sie sicherlich
verfolgen würde. Wahrscheinlich stand Antonio nur deswegen vor ihr, um sie
solange aufzuhalten, bis dieser mordende Irre sie eingeholt hatte. Ja, so
musste es sein. Das hieß, dass jede verstrichene Sekunde sie dem Abgrund näher
brachte. Sie musste sich irgendwas einfallen lassen.
»Und was bekommst du für deine
Lieferungen? Dreißig Silberlinge?«, fragte sie, während sie möglichst unauffällig
die Umgebung in Augenschein nahm.
Er lachte. »Fand ich schon immer
zu wenig. Nein, ich bekomm etwas viel Besseres.«
»Was Besseres? Lass mich raten.
Er hat dir den Posten des Sekretärs angeboten.«
Wieder brach er in Gelächter aus.
Saïna nutzte die Ablenkung, um
die Tür auf halbem Wege rechts vor ihr genauer zu inspizieren. Marode, wie sie
aussah, mussten die Räume dahinter unbewohnt sein. Wenn sie Glück hatte, war
die Tür nicht verrammelt.
»Du hast wirklich einen feinen
Sinn für Humor«, fuhr Antonio fort. »Schade, dass du kaum noch weitere
Gelegenheit haben wirst, ihn unter Beweis zu stellen. Nein, im Ernst:
Vanderbilt wird mich nach draußen bringen; das ist meine Belohnung.«
»Ah, genau wie Lynn und all die anderen.
Na, herzlichen Glückwunsch.«
»Nein, wirklich«, beharrte er.
»Er hat mir einen Beschützer gegeben.«
Für einen Moment keimte Saïnas
Neugier auf und ließ sie die drohende Gefahr vergessen. »Einen Beschützer? Was
meinst du?«
»Warte, ich zeig’s dir.« Er
kramte in seiner Jackentasche und zog schließlich einen kleinen Gegenstand
heraus, den er auf der ausgestreckten Hand ins Licht hielt.
Ein Nazar.
»Das soll der Beschützer sein?«,
fragte Saïna, die sich an ihr Gespräch mit Radu erinnerte. Offenbar war an
Radus Vermutung etwas dran.
»Ja. Es bringt dich wohlbehalten
durch die Grenzanlagen in die andere Welt.« Sein Gesicht strahlte geradezu
vor Verzückung, und Saïna fragte sich, ob der Mann noch irrer war als sein
psychopathischer Mentor.
»Meine Freundin Lynn hatte auch
so ein Ding bei sich, als man ihren zerfetzten Körper im Minenfeld fand.«
»Offenbar wusste sie nicht, wie
man ihn benutzt«, sagte Antonio in einem Tonfall, als würde er zu einem dummen,
kleinen Kind sprechen. »Das war sein Trick. So hat er die Leute dazu bekommen,
freiwillig in das Minenfeld zu gehen. Weißt du, er sagt, er steht darauf, wenn
sie in die Luft fliegen, ihren Gesichtsausdruck, wenn sie merken, dass es aus
ist. Verstehst du?«
»Mhm. Klingt wirklich
herzerwärmend. Und woher weißt du, dass er mit dir nicht dasselbe vorhat?«
Er grinste, als hätte er nur auf
diese Frage gewartet. »Ich hab den Alten in der Hand. Hab ihn beobachtet, seit
er hier aufgetaucht ist. Hab gesehen, was er mit seinem Vorgänger und dessen
Leuten angestellt hat. Hab gleich gemerkt, was für’n kranker Typ er ist. Würde
den Clanchefs nicht gefallen. Und«, fügte er im Verschwörerton hinzu, »denen da
draußen auch nicht. Die mögen kein Aufsehen.«
»Na und?«, warf Saïna ein, die
sich wieder an die Tür erinnert hatte.
»Na ja, eines Tages bin ich zu
ihm. Erst wollt er mich killen wie all die anderen. Aber ich hab ihm meine Idee
erklärt, wie ich ihm eine Menge mehr Opfer besorgen kann. Wie
denn?, hat er mich gefragt. Da hab ich ihm vom Ordo Lucis erzählt und
dass alle, deren Erinnerung wiederkehrt, über die Grenze wollen. Hab gesagt,
wir könnten ja so tun, als ob wir der Ordo Lucis wären. Hat ihm sehr gefallen.«
Er grinste zufrieden.
Saïna hatte das Geplänkel satt.
Es konnte nicht mehr lange dauern, und der Gouverneur würde hinter ihr auftauchen.
Sie hatte keine Ahnung, was genau hinter der Tür war, aber die Wohnungen auf
dieser Ebene hatten häufig einen Hinterausgang. Außerdem schien es ihre einzige
Chance zu sein. Aber sie musste schneller sein als die verdammte Machete.
Zeit für die älteste aller
Finten.
»Tja, schade, dass wir unser
Gespräch jetzt abbrechen müssen.«
Antonio zog die Augenbrauen
zusammen. »Wieso?«, fragte er misstrauisch.
»Wegen des Kerls hinter dir, der
dir schon die ganze Zeit über so aufmerksam zuhört.«
Antonio fuhr herum.
Saïna wusste, dass sie keine
Sekunde zu verlieren hatte. Sie stürmte zur Tür, stieß sie auf, und sie schwang
in die dahinter liegende Dunkelheit. Saïna sprang hindurch und warf die Tür
wieder zu.
Wo ist der
verdammte Riegel? Gibt es überhaupt einen?
Sie tastete verzweifelt über das
morsche Türblatt. Endlich fand sie den
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