Aszendent Liebe: Roman (German Edition)
nehme an, dass er deswegen beim Radio gelandet ist und nicht in einem Beruf mit mehr Kundenkontakt. Sollte sich das ganze Radioding nicht gut entwickeln, wäre er immer noch ein brillanter Angestellter für eine Inkassoagentur. Er erscheint mir wie ein Typ, der liebend gern ein Haus zur Zwangsvollstreckung räumen lässt und eine Familie mit einem behinderten Kind auf die Straße setzt. Er lächelt mich dünn an und schreibt etwas auf seinen Block aus knisterndem, zitronengelbem offiziellem Papier. Ich habe nicht daran gedacht, Papier mitzubringen. Ich frage mich, ob ich ihn um ein Blatt bitten soll, um mir etwas zu notieren. Ich nehme an, dass mein Agent, wenn ich denn einen hätte, Papier mitgebracht hätte. Ich wette, dass sie so was in der Agentenschule lernen: immer Papier und Stift mitbringen.
»Sie sind wunderbar. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken kann,« bricht es aus Holly heraus, und sie beugt sich vor, um meinen Arm zu berühren. Käme sie mir noch näher, wäre das eine intime Situation.
»Äh, ja. Ich bin froh, dass ich helfen konnte.« Ich zucke unverbindlich mit den Schultern und bemühe mich, so zu tun, als gehörten paranormale Aktivitäten zu meinem normalen Tagesablauf.
»Sie haben mir das Leben gerettet.« Holly schüttelt ungläubig den Kopf.
»Wir dachten daran, dass Sie in Hollys Show auftreten. Es ist eine Talkshow. Haben Sie sie schon mal gehört?« Myron schaltet sich ein, um das Gesäusel zu unterbrechen. Ich nickte enthusiastisch, als würde ich schon seit Jahren zuhören, anstatt erst seit einer Woche. »Dann kennen Sie die Sendung ja. Sie beide werden über das sprechen, was Sie ihr geweissagt haben, und über parapsychologische Phänomene im Allgemeinen. Dann werden Sie mit Anrufern sprechen. Haben Sie so etwas schon einmal gemacht?«
»Äh, nein, nicht genau so ein Format.«
»Sie waren aber schon einmal im Radio?«
Ich lache und werfe meine Haare so zurück, dass es hoffentlich selbstbewusst aussieht, ohne die Frage direkt zu beantworten.
»Vielleicht sollten wir Ihren Agenten anrufen und nachfragen, was ihn aufhält. Ich hoffe, dass wir schnell den Vertrag unterzeichnen, damit Sie noch heute in die Show gehen können«, sagt Myron und tippt mit der Bleistiftspitze auf den Block.
»Wenn Sie mich entschuldigen wollen, dann gehe ich schnell raus und rufe ihn an«, sage ich und stehe auf. Ich habe das Gefühl, als gäbe es zu wenig Sauerstoff, als wären wir so weit oben, dass die Luft bereits dünner ist. Ich finde die Damentoilette, schließe mich ein und setze mich. Die Wände sind mit Granit oder Marmor bedeckt. Ich sitze da und drücke mein Gesicht an die kühle Wand. Das hier läuft nicht gut. Nicht nur, dass ich lüge, was meine hellseherischen Fähigkeiten und meinen Agenten betrifft, jetzt lüge ich auch noch, was meine Radioerfahrungen angeht. Vielleicht geht dieses JUNGFERN-Manifest etwas zu weit. Ich konzentriere mich darauf, tief durchzuatmen. Ich höre, wie die Tür sich öffnet, es ist die Empfangsdame, ich erkenne ihre Stimme und das Klappern ihrer Stilettos, während sie mit einer anderen Frau spricht. Sie reden über jemanden, mit dem die Empfangsdame eine Affäre hat, und darüber, dass irgendwer sonst bei der Arbeit das weiß. Sie machen sich Sorgen, seine Frau könnte es herausfinden. Dieser Laden ist ein Sündenpfuhl. Ich frage mich, wie lange ich hier in der Toilette bleiben kann, bevor Holly und Myron nach mir suchen. Ich mag die Vorstellung, hier sitzen zu bleiben, bis alle anderen nach Feierabend nach Hause gegangen sind. Ich überlege, einfach aufzustehen und zu gehen. Wie wahrscheinlich ist es, dass die Empfangsdame mich aufhalten würde? Ich bleibe noch ein paar Minuten sitzen, bevor ich aufstehe. Ich kann nicht ständig wegkriechen. Manchmal muss man aufstehen. Das hier war ein Fehler. Ich werde nach Hause fahren. Auf dem Weg nach draußen überprüfe ich noch meine Zähne im Spiegel und lege etwas Lippenstift auf.
Myron und Holly hören auf zu reden, als ich den Raum betrete. Ich hasse es, wenn das passiert. »Ich befürchte, wir müssen alles neu planen. Mein Agent hatte einen Notfall und kann nicht kommen.« Ich zucke mit den Schultern, als wäre ich persönlich sehr enttäuscht und hätte mir nichts so sehr gewünscht wie dieses Treffen. Ich stehe an der Tür. Ich fühle mich, als warte ich auf die Erlaubnis zu gehen.
Myron seufzt genervt auf. Man sollte doch auf etwas mehr Verständnis hoffen. Mein eingebildeter Agent hat einen echten
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