Aszendent zauberhaft
Sturz aus dem Fenster in Ihrem Alter…«
»Falls ich aus diesem Fenster purzeln würde«, Essie kniff die Augen zusammen, »was unwahrscheinlich ist, da es sich kaum so weit öffnen lässt, als dass eine magersüchtige Schlange sich durchquetschen könnte, würde ich nach einem schrecklichen zwanzig Zentimeter tiefen Fall in einem gepolsterten Beet weicher und federnder immergrüner Bodendecker landen. Was Sie wohl kaum dazu veranlassen müsste, den Notruf zu wählen oder die Motions zurückzurufen, damit sie mich als zweite Lage zu Ada in den Leichenwagen packen, nicht wahr?«
Joys gekünsteltes Lachen klang so schrill wie das Quietschen von Fingernägeln auf einer Wandtafel. »Meine liebe Mrs Rivers! Essie – Sie machen ja Scherze!«
»Ich weiß. Val Parnell ist ein Star entgangen, als er mich übersehen hat, das kann ich Ihnen sagen.«
Dem verständnislosen Blick ihrer farblosen Augen nach zu schließen, hatte Joy von Val Parnell offenbar noch nie gehört. Essie überraschte das nicht. In den Tagen der großen Varieté-Aufführungen hatten Tony und Joy Tugwell wahrscheinlich nicht zum Zielpublikum des Londoner Palladium-Theaters gehört.
»So, nachdem Sie nun vor den bedrohlichen Gefahren des offenen Fensters gewarnt haben, würde ich mich gerne weiter für einen Spaziergang fertigmachen.«
»Ein Spaziergang?«, kreischte Joy. »Ein Spaziergang ? Während der Mittagsruhe? Ein Spaziergang ? Ohne Begleitung?«
»Ohne Begleitung. Ganz allein.« Essie nickte. »Vollkommen solo. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen – ich beherrsche noch alle Kniffe aus meiner Pfadfinderzeit und kann
sämtliche Regeln der Verkehrserziehung für Schulanfänger auswendig, von daher weiß ich, wie man eine Straße sicher überquert. Dank der Boulevardblätter ist mir auch durchaus bewusst, dass man sich vor Fremden in Acht nehmen muss. Und da ich noch immer alle Tassen im Schrank habe, werde ich ganz sicher auch wieder den Weg nach Hause finden. Wenngleich …«, sie sah Joy finster an, »Zuhause hier in sehr weit gefasstem Sinn zu verstehen ist.«
Joy, die sich noch immer nicht sicher war, ob sie gerade veralbert wurde, schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall – erstens sollten Sie ein Schläfchen halten; zweitens herrscht eine enorme Gluthitze draußen; drittens wissen Sie ganz genau, dass Sie auf gar keinen Fall spazieren gehen können, es sei denn, innerhalb des Geländes. Und nur zur vorgesehenen Zeit. Und in Begleitung. Sie wissen, dass Sie nicht alleine ausgehen dürfen, Essie.«
»Das hier«, zischte Essie, »ist ein Altenheim und nicht Abu Ghraib, verdammt noch mal.«
Joy blinzelte im Quickstepp-Tempo und grübelte offenbar darüber nach, was mit Abu Ghraib wohl gemeint sein könnte. Schließlich gab sie es auf. »Außerdem bin ich enorm für Sie verantwortlich. Und Sie wissen, was vereinbart wurde, nach – nun ja – nach dem letzten Mal.«
»Eine Vereinbarung, so wie ich den Begriff verstehe«, fauchte Essie, »ist ein beiderseitiges Abkommen. Ich habe nie irgendetwas zugestimmt.«
Sie funkelten sich an in einem Kräftemessen eisernen Willens. Joy gab nach.
»Mrs Rivers, liebe Essie, es geht mir doch ausschließlich um Ihr Wohlergehen.«
Essie schnaubte. »Unfug. Um Ihr eigenes Wohlergehen, meinen Sie wohl. Sie fürchten, wenn sich noch weitere, äh,
unerfreuliche Vorfälle ereignen, und das wieder in die Presse käme, könnte Twilights in Verruf geraten, und dann wären nicht einmal mehr die günstigen Gebühren und die vom Staat übernommenen Unkosten noch eine Verlockung für habgierige Angehörige, die darauf brennen, sich ihrer älteren Verwandten zu entledigen und Ihre leeren Appartements zu füllen. Und leere Appartements hießen Verlust, dies hieße Schließung durch die Kommune, und dies hieße Arbeitslosigkeit für Sie und Tony – von der kostenlosen Wohnung und all den netten kleinen Extras mal ganz zu schweigen.«
Joy glättete ihre Eau-de-Nil-Bluse und fummelte an der Schleife herum. Stecknadelkopfgroße Farbtupfer erschienen auf ihren Wangen. Essie glaubte die Worte »linksradikal« und »Volksverhetzung« zu hören.
Joy hob flehentlich die Hände. »Essie, ich weiß, es ist einige Zeit vergangen, seit Ihrem … kleinen Unfall … und ich weiß, dass Sie eindeutig eine unserer fittesten Bewohnerinnen sind und jegliche Einschränkung Ihrer persönlichen Freiheit enorm verabscheuen, aber wir müssen uns strikt an die Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften halten, die von der HA und der LA
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