@ E.R.O.S.
mit Angehörigen der dortigen deutschen Emigrantengemeinde an. Mit deren zögernder Hilfe gelang es ihr schließlich, Berlin zu erreichen. Während sie dort bei einem Luftangriff mit Fremden in dem Keller eines Krankenhauses kauerte, gebar sie das Kind, das sie in Amerika empfangen hatte, das Kind ihres Bruders. Es war ein Sohn.
Dieses Kind war ich.
In dem Schweigen, das auf diese Worte folgt, verliere ich allmählich die Fassung. Während der letzten Minuten hat Brahma mir mehr über sich erzählt, als er Lenz während eines Dutzend Gespräche erzählt hat. Der phantastische Hintergrund seiner Geschichte erfüllt mich mit Staunen, und auch mit Entsetzen, aber ich kann nicht damit aufhören, sie zu analysieren. Die Zeit rinnt mir wie Sand durch die Finger.
ERIN>
Ich muß ein paar Minuten lang darüber nachdenken. Es war etwas viel, um alles auf einmal aufzunehmen.
MAXWELL>
Nein.
ERIN>
Warum nicht? Um ganz ehrlich zu sein, ich muß pinkeln. Du hast mich nervös gemacht.
MAXWELL>
Uriniere, wo du sitzt. Es wird dir deine Sterblichkeit zurückgeben.
ERIN>
Ich bin mir durchaus meiner Sterblichkeit bewußt, vielen Dank. Ich werde dieses Terminal jetzt für fünf Minuten verlassen. Ich will mehr über dein Leben wissen. Ich glaube, daß du anders bist. Du könntest sogar der richtige sein. Aber ich muß pinkeln, und ich will mich zusammenreißen. Wenn du hier bist, wenn ich zurückkomme, werde ich mich freuen. Wenn du nicht hier bist, wird es mir leid tun.
Und damit – und mit einem Herz, das wie verrückt schlägt, und schweißgetränktem Haar – logge ich mich aus.
30
I
ch verbringe den größten Teil der Ruhepause von fünf Minuten, die ich mir von Brahma verschafft habe, im Bad, wische Hals und Arme mit einem dampfenden Waschlappen ab und betrachte im Spiegel mein benommenes Gesicht. Brahmas Lebensgeschichte – das, was ich davon gehört habe – ist seltsamer, als ich es mir je vorgestellt hätte, und ich habedas Gefühl, daß sie noch viel seltsamer werden wird. Aber sagt er mir die Wahrheit? Werde ich den Grund für die Morde erfahren? Oder hält er mich lediglich zum Narren, wie er es so geschickt mit Dr. Lenz getan hat?
Das glaube ich nicht. Eine leise Stimme in meinem Hinterstübchen drängt mich, Daniel Baxter – oder sogar Lenz selbst – anzurufen, aber dazu bin ich noch nicht bereit. Nachdem ich Brahma so weit gebracht hatte, daß er »Erin« seine verquere Vergangenheit mitteilen will, muß ich bis zum Ende weitermachen.
Ich setze mich wieder an den Computer, rücke den Kopfhörer zurecht und trinke einen großen Schluck aus einer neuen Tab-Dose. Auf dem Bildschirm stehen die letzten Sätze, die ich gesprochen habe: Wenn du hier bist, wenn ich zurückkomme, werde ich mich freuen. Wenn du nicht hier bist, wird es mir leid tun. Ich entschließe mich, ihn noch eine Minute warten zu lassen, nur um mir die Sache nicht aus der Hand nehmen zu lassen. Nachdem ich das Tab ausgetrunken habe, spreche ich wieder, und EROS schreibt getreu alles auf.
ERIN>
Bist du noch da, Max?
MAXWELL>
Ja.
ERIN>
Du hast mich noch nicht verschreckt. Leg los.
MAXWELL>
Wie bitte?
ERIN>
Ich bin bereit, den Rest deiner Geschichte zu hören.
MAXWELL>
Na schön. Wo war ich?
ERIN>
Inzest. Dein Vater hat in Amerika eine Frau wegen ihres Geldes und ihrer gesellschaftlichen Stellung geheiratet, während seine Schwester – deine Mutter – nach Deutschland davonlief und dich während des Krieges geboren hat.
MAXWELL>
Überspringen wir sechs Jahre. Richard hat seinen Kindheitstraum verwirklicht. Er war ein bekannter Psychiater in einer der größten Städte der USA. Seine Frau hatte Geld, aber er verdiente selbst jede Menge. Docheinen Umstand bedauerte er. Die Gorgone hatte nicht die Absicht, ihr gesellschaftliches Leben mit der Plackerei zu behindern, ein Kind großzuziehen. Also stürzte Richard sich in die Arbeit und wurde mit jedem Jahr, das verstrich, bekannter und umstrittener. Seine Methode war einfach. Er ermutigte die Menschen, ihre Natur zu akzeptieren. Er benutzte Freud und Jung und die anderen, um sogenanntes »anomales Verhalten« zu legitimieren. Ich finde eine amüsante Parallele zu einer Maxime der Computerindustrie: »Das ist keine Störung, sondern eine Eigenschaft.«
Richard lebte seine exotischen sexuellen Bedürfnisse auf eine Vielzahl von Weisen aus, doch es gelang ihm, sich sowohl von der Presse als auch der Polizei fernzuhalten. Als Catherine auf seiner Türschwelle auftauchte (der des
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