@ E.R.O.S.
durch den Kopf geht, aktiviere ich das Spracherkennungsprogramm, rede leise ins Mikrofon und beobachte, wie meine Worte auf dem Bildschirm erscheinen:
ERIN>
Ich bin der Regen.
29
M
AXWELL>
Ich bin so froh, daß du zurückgekommen bist.
Brahmas digitale Stimme dringt mit erschreckender Vertrautheit aus den Lautsprechern. Seine bisherigen
Kommunikationen haben sich so unlöschbar in mein Gedächtnis eingebrannt wie die von Douglas Rain, der Stimme von HAL 9000 in
Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum. Ich verspüre die Versuchung, Brahma eine andere Frequenz zuzuordnen, tue
es aber doch nicht. Die Vertrautheit wird mir helfen, ihn mir als Mann vorzustellen, der er ja natürlich ist. Irgendwo sitzt
er genau wie ich vor einem Computer, einem leuchtenden Bildschirm, und bereitet sich darauf vor, seine geheimsten Gedanken
in eine Maschine zu sprechen. Als er dies schließlich tut, folge ich den Buchstaben auf dem Monitor, um mich zu
vergewissern, daß ich ihn nicht mißverstehe.
MAXWELL>
Aber du bist die trockene Erde, Erin. _Ich_ bin der Regen.
ERIN>
Ich bin gegenteiliger Ansicht. Aber ich schäme mich meiner Bedürfnisse nicht. Du könntest recht haben.
MAXWELL>
Vielleicht schäme ich mich. Meiner Bedürfnisse, meine ich. Ich bin so lange einsam gewesen. Nicht allein, aber einsam.
ERIN>
Das Schicksal der meisten Menschen, fürchte ich.
MAXWELL>
Ich bin nicht wie die meisten Menschen.
ERIN>
Das glauben fast alle Menschen von sich.
MAXWELL>
Du wirst bald wissen, daß es wirklich so ist.
ERIN>
Wie?
MAXWELL>
Heute werde ich etwas tun, was ich noch nie getan habe.
ERIN>
Was?
MAXWELL>
Meine Geschichte erzählen. Und dann wirst du es wissen.
ERIN>
Warum willst du sie mir erzählen? Weil ich dir gesagt habe, ich sei wunderschön, und du mir geglaubt hast?
MAXWELL>
Schönheit ist wichtig, aber nicht alles. Sieh dir die Schauspieler und Schauspielerinnen auf EROS an. Ihre elenden Phantasien sind Enzyklopädien der Unsicherheit. Du hast gestern Dinge gesagt, die mich faszinieren. Wie du von Sünde und Schicksal gesprochen hast. Man findet nur sehr selten Schönheit, die mit Charakter und Intelligenz gepaart ist. Ich habe all diese Eigenschaften, daher weiß ich es. Viele wollen mich kennenlernen, aber ich enthülle nichts. Ich lebe in mir selbst. Ich glaube, bei dir ist es genauso. Daher sehne ich mich danach, dich kennenzulernen. Ich spüre etwas tief in dir. Aber ich werde dich nicht bitten, es zu enthüllen, ohne mich ebenfalls zu enthüllen. Ich bitte dich nur um einen Gefallen. Sag es mir bitte, falls die Dinge, die ich dir verrate, dich zu sehr schockieren. Dann wissen wir, daß wir nicht dafür bestimmt sind, den Weg weiter gemeinsam zurückzulegen.
ERIN>
Einverstanden.
MAXWELL>
Und bitte verzeihe mir, falls ich es mit Orten oder Namen nicht so genau nehme.
ERIN>
Bei den kleinen Dingen lügst du, aber bei den großen sagst du die Wahrheit?
MAXWELL>
Genau. Ich muß zu einem Zeitpunkt beginnen, als du noch nicht geboren warst. Denn damals fing mein Schicksal an.
ERIN>
Ich bin bereit.
MAXWELL>
In den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde mein Großvater in eine bekannte Familie in Deutschland geboren. Nennen wir ihn Rudolf. Rudolf bekam eine erstklassige Ausbildung und wurde schließlich ein angesehener Chirurg in Berlin. Als er fünfundzwanzig war, starben seine Eltern bei einem Brand. Sein älterer Bruder Karl, ebenfalls Chirurg, war sein einziger überlebender Verwandter. Rudolf war ein Stier von Mann, preußisch bis in die Stiefelspitzen, heiratete aber eine kleine, zerbrechliche Frau. Ihre Haut war blaß wie Porzellan, und sie hatte ein feingeschnittenes Gesicht und meerblaue Augen.
Als der Kaiser mit dem Säbel zu rasseln begann, entschloß mein Großvater sich, nach Amerika auszuwandern. Karl bat ihn, in der – wie er es nannte – »Stunde der Not« das Vaterland nicht zu verlassen, doch Rudolf nahm seine Erbschaft und siedelte sich mit einer Frau in
Hier verstummt der Lautsprecher, doch nach einer kurzen Verzögerung nimmt Brahma den Faden wieder auf.
einer großen Stadt in Amerika an und machte sich bei einer Oberschicht-Klientel schnell einen Namen als Chirurg. Ihr erstes Kind war ein Sohn. Nennen wir ihn Richard. Richard war in gewisser Hinsicht eine byronsche Gestalt, schon als Baby. Er hatte die zarte Statur, helle Haut und blauen Augen seiner Mutter geerbt, aber dasdunkle Haar, den Intellekt und unbeugsamen Willen seines Vaters.
Ein Jahr später
Weitere Kostenlose Bücher