@ E.R.O.S.
nachhinein ist mir klar, der Versuch, eine nackte Frau in der Gesamtheit zu sehen – wirklich zu sehen –, ist genauso sinnlos wie der, das gesamte schreckliche Blutvergießen bei einem Verkehrsunfall zu erfassen. Das Gehirn kann einfach nicht alle Eindrücke verarbeiten, die wie eine Sturzflut von den Augen weitergeleitet werden. Ich sah Teile von ihr: Schlüsselbeine wie die geschwungenen Streben einer Gitarre, der flache, braune, mit Sonnenöl eingeriebene Bauch, auf dem Wassertropfen zu einer scharf umrissenen braunen Linie hinabperlten, wo ein helleres Braun wieder in das haarige schwarze Dreieck überging, das die breite Spalte zwischen ihren Beinen verwischte. Und immer ihre Augen. Wie lange habe ich sie angestarrt? Fünf Sekunden? Zehn? Ich hörte ein langes, ehrfürchtiges Pfeifen vom Wasser unter dem Pier her. Dann glitt Erins Blick über meine Schulter, und sie trat einfach vom Pier und sprang in den See. Als ich mich umdrehte und zum Haus hinaufschaute, sah ich niemanden. Doch als ich im Wagen saß, schwieg Drewe die ganze Strecke bis nach Rain.
»Onkel Harrrrp ...«
Erschrocken wende ich den Blick von Erin ab und schaueins Gesicht von Holly, ihrer Tochter. »Was gibt’s, Schätzchen?«
»Wo ist deine Git- arre?«
Bob kichert.
»Ich hab’ sie heute nicht mitgebracht.«
»Spiel mir ein Liieed «, befiehlt die Dreijährige.
»Das kann ich nicht. Aber ich kann eins a cappella singen. Was willst du hören?«
»Blackbirdie!« kreischt sie lachend. Sie meint »Blackbird« von Paul McCartney. Machmal ahmt Patrick Vogelrufe nach, während ich das Lied spiele, was bei Holly immer Lachanfälle auslöst.
»Tut mir leid, Scooter«, sage ich. »Dafür brauche ich die Git -arre. Was hörst du denn noch gern?«
» BARNEY !« kreischt sie.
»Mein Gott«, flüstert Patrick. »Ich dachte, sie wäre letztes Jahr über Barney weggekommen.«
»Äh, Marg?« sagt Bob leise. »Hast du mir nicht gesagt, daß der alte Barney gestern bei einem Autounfall umgekommen ist?«
»Was?« fragt Holly mit großen, runden Augen.
»Daddy!« faucht Drewe.
Um Blutvergießen zu vermeiden, stimme ich die Hymne an, die von den meisten Menschen unter drei Jahren über alles geliebt und von den meisten oberhalb dieses Alters geschmäht wird. Holly lauscht ganz hingerissen. Eigentlich ähnelt sie Drewe mehr als Erin. Die schottisch-englischen Gene haben die der Cajuns anscheinend überwältigt. Ich gebe dem Barney-Theme einen Soul-Gospel-Schluß; Holly klatscht und kichert, und sogar Margaret hebt die Krempe ihres Huts hoch und applaudiert.
»Hast du das mit Karin Wheat gehört?« fragt meine Schwiegermutter mich leise.
Während ich mir die Antwort überlege, nippt sie an ihrer halb geschmolzenen Bloody Mary, erschauert und sagt dann: »Grausig.«
»Ich habe davon gehört«, sage ich unverbindlich, während ich Drewes Blick auf meinem Nacken spüre.
»Ich habe gerade Isis gelesen«, fährt Margaret fort. »Ich wette, einer ihrer verrückten Fans hat sie umgebracht. Dieses Buch war voller Perversionen.«
»Das hat dich aber nicht davon abgehalten, es zu lesen, was?« kichert Bob. »Was gibt’s Neues im Pornokasten, Harper?«
»Pornokosten« ist Bobs Spitzname für den EROS-Computer. »Dasselbe heillose Durcheinander wie eh und je«, sage ich, obwohl ich viel dafür geben würde, wüßte ich, ob die Strobekker-Verbindung in den letzten Stunden wieder aktiv geworden ist, und falls ja, ob das FBI die Nummer zurückverfolgen konnte.
Bob schüttelt den Kopf. »Ich kapier’ immer noch nicht, warum jemand – selbst einer, der nur Sex im Kopf hat – so viel Geld für einen Kasten ausgibt, auf dem noch nicht mal Bilder zu sehen sind.«
»Die gibt es jetzt zu sehen«, erwidere ich. »Die Nachfrage war so groß, daß Jan Krislov nachgegeben hat.«
»Ich werd’ verrückt.«
Erin zieht einen Bademantel über und führt Holly fort von diesem Gespräch, hin auf den perfekt geschnittenen Rasen. Bob hält alle acht Morgen so makellos wie einen Golfplatz und macht die ganze Arbeit auch noch selbst.
»Ich hab’ bei A Current Affair gehört, daß der Mörder ihr den Kopf abgeschnitten hat«, fügt Margaret hinzu.
Ich zwinge mich, desinteressiert dreinzuschauen.
»Diesmal werde ich euch rosarote Liberale überraschen«, sagt Bob gutmütig. »Ich garantiere euch, ein Weißer hat diese Schriftstellerin umgebracht.«
Drewe runzelt die Stirn. »Wieso sagst du das?«
»Weil ein Nigger nicht auf diese Weise mordet«, erwidert Bob völlig
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