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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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abhauen können.
    Der Trudi Pelikan gab ich 20 Kartoffeln und hatte damit Zucker und Salz bezahlt. Zwei Monate später, kurz vor Weihnachten waren die 273 Kartoffeln alle. Die letzten kriegten so blaugrüne abgleitende Augen wie Bea Zakel. Ich überlegte, ob ich ihr das eines Tages sagen soll.

Himmel unten Erde oben
    Im Sommerhaus auf der Wench, tief im Obstgarten, stand eine Holzbank ohne Lehne. Sie hieß Hermannonkel. Den Namen hatte sie, weil wir niemanden kannten, der so hieß. Der Hermannonkel hatte in der Erde zwei runde Füße aus Baumstämmen. Sein Sitzbrett war nur an der Oberseite glattgesägt, an der Unterseite war die Rinde am Holz. In der prallen Sonne schwitzte der Hermannonkel Harztropfen. Wenn man sie abzupfte, waren sie am nächsten Tag nachgewachsen.
    Weiter oben auf dem Grashügel stand die Tante Luia. Sie hatte eine Lehne und vier Beine und war kleiner und schlanker als der Hermannonkel, und älter als er. Der Hermannonkel war ihr nachgekommen. Ich ließ mich vor der Tante Luia den Hügel hinunterrollen. Himmel unten Erde oben und dazwischen Gras. Immer hielt das Gras mich an den Füßen fest, dass ich nicht in den Himmel falle. Immer sah ich den grauen Unterleib der Tante Luia.
    An einem Abend saß die Mutter auf der Tante Luia, und ich lag vor ihren Füßen auf dem Rücken im Gras. Wir schauten hinauf, die Sterne waren alle da. Und die Mutter zog sich den Kragen ihrer Strickjacke übers Kinn, bis der Kragen Lippen hatte. Bis nicht sie, sondern der Kragen sagte:
    Der Himmel und die Erde sind die Welt. Der Himmel ist so groß, weil darin für jeden Menschen ein Mantel hängt. Und die Erde ist so groß wegen den ganzen Entfernungen bis zu den Zehen der Welt. Bis dorthin ist es aber so weit,dass man mit dem Denken aufhören muss, weil man die Entfernungen wie eine leere Übelkeit im Magen spürt.
    Ich fragte: Wo ist das Weiteste auf der Welt.
    Wo sie aufhört.
    An den Zehen.
    Ja.
    Sind es auch zehn.
    Ich glaube, ja.
    Weißt du, welcher Mantel dir gehört.
    Erst wenn ich oben im Himmel bin.
    Dort sind doch die Toten.
    Ja.
    Wie kommen sie dorthin.
    Sie wandern mit der Seele.
    Hat die Seele auch Zehen.
    Nein, Flügel.
    Haben die Mäntel Ärmel.
    Ja.
    Sind die Ärmel ihre Flügel.
    Ja.
    Sind der Hermannonkel und die Tante Luia ein Paar.
    Wenn das Holz heiratet, dann ja.
    Dann stand die Mutter auf und ging ins Haus. Und ich setzte mich auf die Tante Luia, genau dorthin, wo sie gesessen hatte. Dort war das Holz warm. Im Obstgarten zitterte der schwarze Wind.

Von den Langeweilen
    Heute habe ich keine Frühschicht, keine Nachmittagsschicht und keine Nachtschicht. Nach der letzten Nachtschicht kommt immer der lange Mittwoch. Er ist mein Sonntag und hört erst am Donnerstag um zwei Uhr mittags auf. Ich habe zu viel freie Luft um mich. Ich müsste mir die Nägel schneiden, aber letztes Mal schien es mir, als würde ich sie an meinen Fingern jemand anderem schneiden. Ich wusste nicht, wem.
    Durchs Barackenfenster sieht man den Korso bis zur Kantine. Da kommen die zwei Zirris, sie tragen einen Eimer, darin wird Kohle sein, er ist schwer. An der ersten Bank sind sie vorbei, auf die zweite setzen sie sich, weil sie eine Lehne hat. Ich könnte das Fenster öffnen und winken oder hinausgehen. Schon schlüpfe ich in die Galoschen und bleibe dann in den Galoschen auf dem Bett sitzen.
    Es gibt den langweiligen Größenwahn des Gummiwurms in der Kuckucksuhr, das schwarze Knie am Ofenrohr. Auf dem Boden liegt der Schatten des abgenutzten Holztischchens. Wenn sich die Sonne dreht, wird sein Schatten neu. Die Langeweile des Wasserspiegels im Blecheimer gibt es und das Wasser in meinen aufgepumpten Beinen. Die Langeweile der eigenen aufgerissenen Hemdnaht und der geliehenen Nähnadel gibt es und die zittrige Langeweile des Nähens, bei dem mir das Hirn über die Augen rutscht, und die Langeweile des abgebissenen Fadens gibt es.
    Bei den Männern gibt es die Langeweile der unkennbarenDepressionen bei ihrem brummigen Kartenspielen ohne jede Passion. Mit einem guten Blatt muss man gewinnen wollen, doch die Männer brechen ihr Spiel ab, bevor einer gewonnen oder verloren hat. Und bei den Frauen gibt es die Langeweile des Gesangs, ihre Heimwehlieder beim Entlausen in der Langeweile der soliden Läusekämme aus Horn und Bakelit. Und es gibt die Langeweile der schartigen Blechkämme, die nichts nützen. Die Langeweile des Kahlscherens gibt es und die Langeweile der Schädel wie Porzellandosen, dekoriert mit Eiterblümchen und

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