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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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die Weite. Ich stand angewachsen vor dem großen Kartoffelhaufen und begann zu glauben, dass es zwischen Tur Prikulitsch und dem Wachposten keine Absprache gibt, sondern zwischen Tur Prikulitsch und mir. Dass der Kartoffelhaufen die Absprache ist. Dass Tur mir den Seidenschal mit Kartoffeln bezahlen will.
    Ich stopfte mich bis unter die Mütze mit Kartoffeln aller Größe aus. Ich zählte 273 Kartoffeln. Der Hungerengel half mir, er war ja ein notorischer Dieb. Doch nachdem er mir geholfen hatte, war er wieder ein notorischer Peiniger und ließ mich mit dem langen Heimweg allein.
    Ich ging los. Bald juckte es mich überall, die Kopflaus, die Hals- und Nackenlaus, die Achsellaus, die Brustlaus, im Schamhaar die Filzlaus. Zwischen den Zehen in den Fußlappen der Galoschen juckte es sowieso. Zum Kratzen hätte ich den Arm heben müssen, was ich mit meinen ausgestopften Ärmeln nicht konnte. Beim Gehen hätte ich die Knie biegen müssen, was ich mit den ausgestopften Hosenbeinen nicht konnte. Ich schlurfte an der ersten Abraumhalde vorbei. Die zweite kam und kam nicht, oder war sie mir entgangen. Die Kartoffeln waren schwerer als ich. Für die dritte Abraumhalde war es inzwischen schon viel zu dunkel. In alle Himmelsgegenden waren Sterne aufgefädelt.
    Die Milchstraße läuft von Süden nach Norden, hatte der Rasierer Oswald Enyeter gesagt, als der zweite seiner Landsleute nach missglückter Flucht auf dem Lagerplatz vorgeführt wurde. Um nach Westen zu gelangen, hatte ergesagt, muss man die Milchstraße überqueren und rechts abbiegen, dann immer geradeaus, also sich vom großen Wagen immer links halten. Ich aber fand nicht einmal die zweite und dritte Abraumhalde, die jetzt auf dem Rückweg linkerhand kommen mussten. Lieber rundum bewacht sein als rundum verloren. Die Akazien, der Mais, auch meine Schritte trugen einen schwarzen Umhang. Die Krautköpfe schauten mir nach wie Menschenköpfe, sie trugen verschiedenste Frisuren und Mützen. Nur der Mond trug eine weiße Haube und fingerte mir im Gesicht wie eine Krankenschwester. Ich dachte, vielleicht brauche ich die Kartoffeln gar nicht mehr, vielleicht bin ich todkrank vergiftet vom Keller und weiß es noch nicht. Ich hörte stockende Vogelschreie aus den Bäumen und ein klagendes Lallen in der Weite. Die Nachtsilhouetten konnten fließen. Ich darf mich nicht fürchten, dachte ich, sonst ertrinke ich. Ich redete mit mir, um nicht zu beten:
    Die beständigen Dinge vergeuden sich nicht, sie brauchen nichts als eine einzige, ewig gleiche Beziehung zur Welt. Die Beziehung der Steppe zur Welt ist das Lauern, die Beziehung des Mondes das Leuchten, die Beziehung der Erdhunde das Fliehen, die Beziehung der Gräser das Schaukeln. Und meine Beziehung zur Welt ist das Essen.
    Der Wind summte, ich hörte die Stimme meiner Mutter. Im letzten Sommer zu Hause bei Tisch hätte die Mutter nicht sagen sollen, stich die Kartoffeln nicht mit der Gabel an, sie zerfallen, die Gabel nimmt man fürs Fleisch. Das hat sich die Mutter nicht vorstellen können, dass die Steppe ihre Stimme kennt, dass mich die Kartoffeln einmal nachts in der Steppe in die Erde ziehen und die Sterne oben alle stechen. Dass ich mich wie ein Schrank durch Felder undGrasland zum Lagertor schleppe, hat damals am Tisch niemand geahnt. Dass ich nur drei Jahre später allein in der Nacht ein Kartoffelmensch bin und meinen Rückweg in ein Lager Heimweg nenne.
    Am Lagertor bellten die Hunde mit diesen sopranhohen Nachtstimmen, die immer dem Weinen glichen. Vielleicht hatte Tur Prikulitsch auch mit den Wachposten eine Absprache, denn sie winkten mich durch, ich wurde nicht kontrolliert. Und ich hörte sie hinter mir lachen, Schuhe tappten auf den Boden. Ich konnte mich, so ausgestopft wie ich war, nicht umdrehen, vermutlich imitierte einer meinen steifen Gang.
    Dem Albert Gion habe ich am nächsten Tag 3 mittlere Kartoffeln in die Nachtschicht mitgenommen. Vielleicht will er sie in aller Ruhe hinten auf dem Feuer, in dem offenen Eisenkorb, braten. Er will nicht. Er schaut sie einzeln an und legt sie in seine Mütze. Er fragt: Warum grad 273 Kartoffeln.
    Weil minus 273 Grad Celsius der absolute Nullpunkt ist, sag ich, kälter geht es nicht.
    Du hast es heute mit der Wissenschaft, meint er, du hast dich doch bestimmt verzählt.
    Verzählt haben kann ich mich nicht, sag ich, die Zahl 273 passt auf sich auf, sie ist ein Postulat.
    Postulat, sagt Albert Gion, du hättest an was anderes denken sollen. Mensch Leo, du hättest

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