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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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Hunger war.
    Für mich ist das Essen auch 60 Jahre nach dem Lager eine große Erregung. Ich esse mit allen Poren. Wenn ich mit anderen Personen esse, werde ich unangenehm. Ich esse rechthaberisch. Die anderen kennen das Mundglück nicht, sie essen gesellig und höflich. Mir aber geht gerade beim Essen das Eintropfenzuvielglück durch den Kopf, dass es zu jedem, so wie wir hier sitzen, irgendwann kommt und dass man im Kopf das Nest, im Atem die Schaukel, in der Brust die Pumpe, im Bauch den Wartesaal hergeben muss. Ich esse so gerne, dass ich nicht sterben will, weil ich dann nicht mehr essen kann. Ich weiß seit 60 Jahren, dass meine Heimkehr das Lagerglück nicht bändigen konnte. Es beißt mit seinem Hunger heute noch von jedem anderen Gefühl die Mitte ab. Mittendrin ist bei mir leer.
    Seit meiner Heimkehr hat jedes Gefühl an jedem Tag seinen eigenen Hunger und stellt Ansprüche auf Erwiderung, die ich nicht bringe. An mich darf sich niemand mehr klammern. Ich bin vom Hunger belehrt und aus Demut unerreichbar, nicht aus Stolz.

Man lebt. Man lebt nur einmal
    In der Hautundknochenzeit hatte ich nichts mehr im Hirn außer dem ewig sirrenden Leierkasten, der Tag und Nacht wiederholte: Kälte schneidet, Hunger betrügt, Müdigkeit lastet, Heimweh zehrt, Wanzen und Läuse beißen. Ich wollte einen Tausch aushandeln mit den Dingen, die ohne zu leben untot sind. Ich wollte einen Rettungstausch vereinbaren zwischen meinem Körper und der Horizontlinie in der Luft oben und den Staubstraßen auf der Erde unten. Ich wollte mir ihre Ausdauer leihen und ohne meinen Körper existieren, und wenn das Gröbste vorbei ist, wieder in meinen Körper schlüpfen und im Watteanzug erscheinen. Es hatte nichts zu tun mit sterben, es war das Gegenteil.
    Der Nullpunkt ist das Unsagbare. Wir sind uns einig, der Nullpunkt und ich, dass man über ihn selbst nicht sprechen kann, höchstens drumherum. Das aufgesperrte Maul der Null kann essen, nicht reden. Die Null schließt dich ein in ihre würgende Zärtlichkeit. Der Rettungstausch duldet keine Vergleiche. Er ist zwingend und direkt wie: 1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot.
    In der Hautundknochenzeit muss mir der Rettungstausch tatsächlich gelungen sein. Hie und da muss ich die Ausdauer der Horizontlinie und Staubstraßen gehabt haben. Mit Haut und Knochen im Watteanzug allein hätte ich mich nicht am Leben halten können.
    Das Nähren des Körpers bleibt mir bis heute ein Geheimnis. Im Körper wird abgerissen und aufgebaut wie auf derBaustelle. Du siehst dich und die anderen täglich, merkst aber an keinem Tag, wieviel in dir zusammenbricht oder auf die Beine kommt. Es bleibt ein Rätsel, wie die Kalorien alles nehmen und geben. Wie sie alle Spuren in dir löschen, wenn sie nehmen, und sie wieder zurücktun, wenn sie geben. Du weißt nicht, ab wann es mit dir aufwärts ging, aber du bist wieder bei Kräften.
    Im letzten Lagerjahr bekamen wir für unsere Arbeit Geld auf die Hand. Wir konnten einkaufen auf dem Basar. Wir aßen Dörrpflaumen, Fisch, russischen Pfannkuchen mit süßem oder gesalzenem Käse, Speck und Schmalz, Maiskuchen mit Zuckerrübenbrei, öligen Sonnenblumenhalva. In wenigen Wochen waren wir wieder ganz normal genährt. Schwammig dick, die Russen sagen BAMSTI. Aus uns wurden wieder Männer und Frauen, als wäre es die zweite Pubertät.
    Die neue Eitelkeit begann bei den Frauen, als die Männer noch in ihrer Watterüstung in den Tag schlurften. Sie waren sich noch schön genug und besorgten den Frauen lediglich das Material der Eitelkeit. Der Hungerengel bekam ein Gespür für Kleider, für die neue Lagermode. Die Männer brachten 1 Meter lange Stücke von blütenweißen armdicken Baumwollseilen aus der Fabrik. Die Frauen drehten die Seile auf, knüpften die Fäden zusammen und häkelten sich mit Eisenhaken Brusthalter, Höschen, Blusen und Leibchen. Die Knoten wurden beim Häkeln nach innen gezogen, man sah keinen einzigen an den fertigen Sachen. Die Frauen häkelten sogar Haarbänder und Broschen. Die Trudi Pelikan trug eine gehäkelte Seerosenbrosche wie eine an die Brust gehängte Mokkatasse. Die eine Zirri trug eine Maiglöckchenbrosche mit weißen Fingerhüten am Draht,die Loni Mich eine mit rotem Ziegelstaub gefärbte Dahlie.  In dieser ersten Phase des Baumwolltransfers war auch ich mir noch schön genug. Aber bald wollte ich mich neu ausstaffieren. In langer Handarbeit nähte ich mir aus dem zerschlissenen Mantel mit dem Samtbündchen eine Schimmimütze. Ich hatte ihren

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