Atemschaukel
Gewinde.
Als ich meine neuen Kleider auf dem Rondell zum ersten Mal vorführte, dachte ich: Alles, was noch kommt, ist schon da. Es soll alles immer so bleiben, wie es jetzt ist.
Einmal werde ich
aufs elegante Pflaster kommen
Das Meldekraut wuchs auch im vierten Frieden pfeifend grün. Wir pflücken es nicht, hatten keinen wilden Hunger mehr. Wir waren sicher, dass wir jetzt nach dem vierjährigen Aushungern doch nicht fürs Heimfahren, sondern fürs Hierbleiben und Arbeiten gefüttert wurden. Die Russen haben jedes Jahr auf das Kommende gewartet, wir haben uns davor gefürchtet. Bei uns stand sich die alte Zeit selbst im Weg, und ihnen floss eine neue Zeit ins riesige Land.
Es gab das Gerücht, Tur Prikulitsch und Bea Zakel hätten in der Wäschekammer all die Jahre Kleider gehortet, auf dem Basar verkauft und das Geld mit Schischtwanjonow geteilt. Darum mussten viele erfrieren, die sogar nach der Lagerordnung ein Recht auf Wäsche, Pufoaikas und Schuhe hatten. Wir haben sie nicht mehr gezählt. Aber wenn ich den Frieden zählte, wusste ich, dass bei der Trudi Pelikan im Register der Krankenbaracke 334 Tote in Frieden ruhen – im ersten, zweiten, dritten und vierten. Wochenlang dachte ich nicht dran, dann tauchten sie auf wie eine Rassel im Hirn und begleiteten mich durch den Tag.
Wie oft habe ich mir gedacht, die Bimmelglöckchen der Koksbatterien läuten von einem Jahr ins andere. Ich möchte einmal, statt der Bank auf dem Lagerkorso einer Parkbank begegnen, auf der ein freilaufender Mensch sitzt, eine Person, die nie im Lager war. Auf dem Rondell machtean einem Abend das Wort KREPPSOHLE die Runde. Unsere Sängerin Loni Mich fragte, was Krepp heißt. Und Karli Halmen schielte zum Advokaten Paul Gast und sagte, Krepp kommt von Krepieren, im Himmel der Steppe tragen wir dann alle Kreppsohlen. Die Loni Mich wollte nicht locker lassen. Nach den Kreppsohlen war auch von den FAVORITEN die Rede, die jetzt modern sein sollten in Amerika. Die Loni Mich fragte wieder, was Favoriten sind. Und der Akkordeonspieler Konrad Fonn meinte, Favoriten sind Vogelschwanzfrisuren an den Ohren.
Alle zwei Wochen liefen im Kinotheater des Russendorfs Filme und Wochenschauen für uns Lagerleute. Russische, aber auch amerikanische und sogar requirierte UFA-Filme aus Berlin. In einer Wochenschau aus Amerika sah man Konfetti wie Schnee zwischen Wolkenkratzern herumfliegen und singende Männer mit Kreppsohlen und Backenbärten bis zum Kinn. Und nach dem Film sagte der Rasierer Oswald Enyeter, diese Backenbärte heißen Favoriten. Nun sind wir komplett russifiziert und werden dabei amerikanisch modern, sagte er.
Auch ich wusste nicht, was Favoriten sind. Ich war selten im Kino. Wegen meiner Schichtarbeit war ich um die Zeit immer im Keller oder noch zu müde vom Keller. Aber Ballettki hatte ich für diesen Sommer, Kobelian hatte mir einen halben Autoreifen geschenkt. Und meinen Grammophonkoffer konnte ich zusperren, Paul Gast hatte mir einen Schlüssel mit drei feinen Nasen wie Mäusezähne gemacht. Vom Tischler hatte ich einen neuen Holzkoffer mit einem Schraubschloss. Ich war mit neuen Kleidern ausstaffiert. Kreppsohlen wären gar nichts für hier im Keller gewesen, und Favoriten wuchsen von selbst, wären aber eher etwasfür Tur Prikulitsch gewesen. Mir schienen sie regelrecht affig.
Trotzdem wäre es an der Zeit, dachte ich mir, Bea Zakel oder Tur Prikulitsch einmal irgendwo anders und von gleich zu gleich zu begegnen, sagen wir auf einem Bahnhof mit gusseisernen Pilastern und hängenden Petunien wie in einem Kurort. Sagen wir, ich steige in den Zug, und Tur Prikulitsch sitzt im selben Abteil. Ich werde kurz grüßen und mich ihm schief gegenübersetzen, das ist alles. Ich werde so tun, als wäre es alles, denn ich werde seinen Ehering sehen und nicht fragen, ob er Bea Zakel geheiratet hat. Ich werde mein Sandwich auspacken und aufs Klapptischchen legen. Weißbrot mit dick Butter drauf und rosa Kochschinken. Es wird mir nicht schmecken, aber ich werde mir nicht anmerken lassen, dass es mir nicht schmeckt. Oder ich werde den Zither-Lommer treffen. Er wird mit der Sängerin Loni Mich kommen. Ich werde sehen, dass ihr Kropf noch gewachsen ist. Die beiden werden mich abholen wollen zum Konzert im Athenäum. Ich werde mich mit verstellter Stimme entschuldigen und die beiden ziehen lassen. Denn ich werde Kartenzwicker und Platzanweiser im Athenäum sein und die beiden am Eingang empfangen und mit ausgestrecktem Zeigefinger sagen: Zeigt
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