Atemschaukel
Bauplan im Kopf, eine schwierige Konstruktion mit allen Finessen. Mit Stoff verkleidet rundum ein Steg aus Reifengummi, so groß, dass man sich die Mütze schief aufs Ohr ziehen kann. Im Schild Dachpappe, ein ovales Oberteil, verstärkt mit Zementsackpapier, und die ganze Mütze innen gefüttert mit brauchbaren Stücken aus einem zerrissenen Unterhemd. Das Innenfutter war mir wichtig, es war die alte Eitelkeit von früher, dass man für sich selbst auch dort schön sein will, wo andere nicht hinsehen. Es war eine Schiebermütze als Erwartungsmütze, eine Mütze für bessere Zeiten.
Zur gehäkelten Lagermode der Frauen gab es im Laden des Russendorfs Toilettenseife, Puder und Rouge. Alles die gleiche Marke KRASNYI MAK, roter Mohn. Die Schminksachen waren rosa und hatten einen schneidigsüßen Duft. Der Hungerengel staunte.
Die allererste Modewelle waren Ausgehschuhe, die BALLETTKI. Ich brachte einen halben Gummireifen zum Schuster, andere organisierten sich aus der Fabrik gummierten Stoff vom Förderband. Der Schuster machte leichte Sommerschuhe, sehr dünne schmiegsame Sohlen, an jeden Fuß genau angepasst. Auf dem Leisten gearbeitet, sehr elegant. Männer wie Frauen trugen sie. Der Hungerengel wurde leichtfüßig. Die Paloma war aus dem Häuschen, alle liefen zum Rondell und tanzten, bis kurz vor Mitternacht die Hymne kam.
Weil die Frauen aber nicht nur sich selbst und den anderen Frauen, sondern auch den Männern gefallen wollten, mussten auch die Männer sich anstrengen, damit die Frauen sie hinter der Decke an die gehäkelte Unterwäsche ließen. So kam es nach den Ballettki auch oberhalb der Schuhe zur Männermode. Neue Mode und neue Liebschaften, Wildwechsel, Schwangerschaften, Auskratzungen im städtischen Spital. In der Krankenbaracke hinterm Holzgitter vermehrten sich aber auch die Babys.
Ich ging zum Herrn Reusch aus Guttenbrunn, aus dem Banat. Ich kannte ihn nur vom Appell. Tagsüber räumte er Schutt ab in einer zerbombten Fabrik. Abends besserte er für Tabak zerrissene Pufoaikas aus. Er war gelernter Schneider, und seit der Hungerengel leichtsinnig herumlief, ein gefragter Fachmann. Der Herr Reusch rollte ein dünnes Fetzenband mit Zentimeterstrichlein auf, ich wurde vom Hals bis zu den Knöcheln vermessen. Dann sagte der Herr Reusch, für die Hose 1,50 Meter Stoff, für die Jacke 3,20 Meter. Und noch 3 große Knöpfe und 6 kleine. Fürs Jackenfutter sorge er selbst, sagte er. Ich wollte auch einen Gürtel mit Schnalle für die Jacke. Er schlug mir eine Schlüpfschnalle aus zwei Metallringen vor und am Rücken eine Falte, die sich mit Einnähern zweimal öffnet. Er sagte, eine Kellerfalte, in Amerika ist das jetzt Mode.
Ich bestellte zwei Metallringe vom Kowatsch Anton und ging mit meinem ganzen Bargeld ins Russendorf in den Laden. Der Hosenstoff war gedecktes Blau mit hellgrauen Noppen. Der Jackenstoff sandbeige und zementsackbraun kariert, jedes Karo in sich mit Reliefeffekt. Ich kaufte auch gleich eine fertige Krawatte, moosgrün in schiefen Rhomben. Und 3 Meter Rips, hell reseda für ein Hemd. DannKnöpfe für Hose und Jacke plus 12 ganz kleine für das Hemd. Das war im April 1949.
Drei Wochen später hatte ich das Hemd und den Anzug mit der Kellerfalte und der Eisenschnalle. Der weinrote, in sich matt und glänzend karierte Seidenschal hätte jetzt endlich wieder zu mir gepasst. Tur Prikulitsch trug ihn schon lange nicht mehr, wahrscheinlich hatte er ihn weggeschmissen. Der Hungerengel war nicht mehr im Hirn, im Nacken saß er aber noch. Und er hatte ein gutes Gedächtnis. Das brauchte er gar nicht, die Lagermode war auch eine Art Hunger, Augenhunger. Der Hungerengel sagte: Verschwende nicht dein ganzes Geld, wer weiß, was noch kommt. Alles, was noch kommt, ist schon da, dachte ich. Ich wollte Ausgehkleider für den Lagerkorso, das Rondell und sogar für den Weg zu meinem Keller durch Unkraut, Rost und Schutt. Ich begann die Schicht mit Umkleiden unten im Keller. Der Hungerengel mahnte: Hochmut kommt vor dem Fall. Aber ich sagte ihm: Man lebt. Man lebt nur einmal. Auch das Meldekraut kommt nicht weg von hier und trägt rotes Geschmeide und schneidert sich für jedes Blatt einen Handschuh mit einem anderen Daumen.
Mein Grammophonkistchen hatte mittlerweile seinen neuen Schlüssel, wurde jetzt aber langsam zu klein. Ich ließ mir vom Tischler auch noch einen soliden Holzkoffer für die neuen Kleider bauen. Und bestellte von Paul Gast in der Schlosserei ein seriöses Kofferschloss mit
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