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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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mal eure Karten her, hier geht es nach geraden oder ungeraden Zahlen, ihr habt 113 und 114, also sitzt ihr getrennt. Erst wenn ich lache, werden sie mich erkennen. Vielleicht werde ich aber gar nicht lachen.
    Ich dachte mir auch, ich werde Tur Prikulitsch zum zweiten Mal begegnen in einer großen Stadt in Amerika. Er wird keinen Ehering am Finger tragen, aber mit einer der Zirris am Arm die Treppe heraufkommen. Die Zirri wird michnicht erkennen, aber er wird mit dem Auge zwinkern wie mein Onkel Edwin, wenn er sagte: Da hab ich mal wieder eine Wimper riskiert. Ich werde weitergehen, das ist alles.
    Vielleicht werde ich noch einigermaßen jung sein, wenn ich aus dem Lager wieder draußen bin, wie man so sagt, in den besten Jahren, wie in dem Lied, das die Loni Mich mit zittrigem Kropf als Arie singt SCHIER DREISSIG JAHRE WAR ICH ALT. Vielleicht werde ich Tur Prikulitsch zum dritten, vierten Mal begegnen und noch sehr oft, in einer dritten, vierten, sechsten, sogar achten Zukunft. Einmal werde ich aus dem Hotelfenster vom zweiten Stock oben auf die Straße schauen, und es wird regnen. Und unten wird ein Mann gerade seinen Schirm aufspannen. Er wird lange brauchen und nass werden, weil der Schirm klemmt. Ich werde sehen, dass seine Hände Turs Hände sind, aber das wird er nicht wissen. Wenn er das wüsste, werd ich mir denken, würde er sich mit dem Schirmöffnen nicht so viel Zeit lassen oder Handschuhe anziehen oder gar nicht in diese Straße kommen. Wenn er nicht Tur Prikulitsch wäre, nur seine Hände hätte, würde ich ihm aus dem Fenster zurufen: Geh doch auf die andere Straßenseite, unter der Markise wirst du nicht nass. Wenn er den Kopf heben würde, würde er vielleicht sagen: Wieso duzen Sie mich. Und ich würde sagen: Ich hab Sie nicht im Gesicht gesehen, ich duze nur Ihre Hände.
    Ich dachte mir, einmal werde ich aufs elegante Pflaster kommen, wo man anders zu Hause ist als in der Kleinstadt, wo ich geboren bin. Das elegante Pflaster wird eine Promenade sein am Schwarzen Meer. Das Wasser wird weiß geschäumt derart schaukeln, wie ich es noch nie gesehen habe. Auf der Promenade werden Neonröhren leuchtenund Saxophone spielen. Ich werde Bea Zakel begegnen und sie erkennen, ihre Augen werden immer noch die zögerliche Drehung haben und den abgleitenden Blick. Ich werde kein Gesicht haben, weil sie mich nicht erkennt. Sie wird immer noch die schweren Haare tragen, aber nicht geflochten, sondern flattrig an den Schläfen, mehlweiß gebleicht wie Möwenflügel. Sie wird auch noch die hohen Backenknochen haben, um die zwei harte Schatten stehen wie am hohen Mittag um zwei Häuserecken. Ich werde an den rechten Winkel denken, an eine Siedlung hinterm Lager.
    Im vorigen Herbst wurde hinterm Lager eine neue Russensiedlung gebaut. Es waren Reihenhäuser aus Holzfertigteilen, die aus Finnland kamen, Finnenhäuser. Karli Halmen hatte mir erzählt, dass die Fertigteile akkurat zugeschnitten und genaue Montagepläne dabei waren. Dass beim Ausladen alles durcheinander kam, bis niemand mehr wusste, wo was hingehört. Das Aufbauen wurde ein Desaster, mal waren es zu wenige, mal zu viele Fertigteile, mal waren es die falschen. Der Baumeister war der einzige in all den Jahren, der die Zwangsarbeiter für Leute aus kultivierten Ländern hielt, in denen der rechte Winkel 90 Grad hat. Er sah in den Deportierten denkende Menschen, darum habe ich mir das gemerkt. In einer Zigarettenpause hielt er eine Baustellenrede über die guten Absichten des Sozialismus und das Unvermögen. Seine Ansprache kam zu der Einsicht: Die Russen wissen, was ein rechter Winkel ist, aber sie schaffen ihn nicht.
    Ich werde einmal, dachte ich mir, wer weiß im wievielten Frieden und der wievielten Zukunft in das Land der Bergkämme kommen, in das ich im Traum auf dem weißenSchwein durch die Luft reite und von dem die Leute sagen, es sei meine Heimat.
    Eine Variante des Heimfahrens, die hier im Lager zirkulierte, besagte, dass unsere besten Jahre vorbei sind, wenn wir dann mal nach Hause kommen. Uns wird es so gehen wie den Kriegsgefangenen nach dem Ersten Weltkrieg – es wird ein Heimweg kommen, der Jahrzehnte dauert. Schischtwanjonow wird uns zum letzten kürzesten Appell befehlen und verkünden:
    Hiermit löse ich das Lager auf. Verschwindet.
    Und jeder wird auf eigene Faust immer weiter nach Osten losziehen, in die verkehrte Richtung, weil nach Westen alles zu ist. Über den Ural, quer durch ganz Sibirien, Alaska, Amerika und dann über Gibraltar

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