Atevi 1 - Fremdling
über den Korridor auf sein Schlafzimmer zubewegten.
Er schlich aus dem Bett und kniete sich vor die Matratze.
»Nand’ Paidhi«, meldete sich Jagos Stimme. »Ich bin’s, Jago.«
Er zog die Hand zurück, die nach der Pistole gelangt hatte, setzte sich aufs Bett und sah eine ganze Brigade von Dienstboten durchs Zimmer nach draußen marschieren. Gesichter waren nicht zu erkennen. Metall blinkte vor schwarzen Umrissen, die er als Banichis Uniform auszumachen glaubte.
Eine Gestalt blieb zurück.
»Wer ist da?« fragte er kleinlaut.
»Ich bin’s, Jago. Ich bleibe bei Ihnen, Nadi. Sie können getrost schlafen.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Es war wohl nur ein Blitzeinschlag. Was Sie da hören, ist das Notstromaggregat, der die Kühlkammer in Betrieb hält.«
Bren stand auf, suchte nach seinem Morgenmantel und verursachte schrecklich viel Lärm, als er mit dem Knie gegen einen Stuhl stieß.
»Was treiben Sie da, Nadi?«
»Ich suche meinen Morgenmantel.«
»Ist er das?« Sie reichte ihm den Mantel, der am Fußende des Betts gelegen hatte. Atevi konnten bei Nacht sehr viel besser sehen als Menschen, erinnerte sich Bren mit Unbehagen. Er zog den Mantel über, verknotete den Gürtel und ging ins Kaminzimmer, wo das Feuer flackerte, überstrahlt mitunter vom grellen Blitzlicht vor den Fenstern.
Jago folgte. Ihre Augen funkelten golden. Atevi fanden es gespenstisch, daß Menschenaugen kaum Licht reflektierten und im Dunklen fast unsichtbar waren. Der Unterschied kam nicht zuletzt in den Alpträumen der jeweils anderen zur erschreckenden Geltung.
Aber Bren fühlte sich nun sicher unter ihrer Bewachung, und überhaupt: Ursache der nächtlichen Störung war gewiß nur der Einschlag eines Blitzes. Banichi würde jetzt draußen in feuchter Kälte herumirren müssen und wahrscheinlich in übler Laune sein, wenn er zurückkehrte.
Daß Banichi und Jago in voller Montur und bewaffnet waren, stimmte Bren allerdings ein wenig argwöhnisch.
»Schlafen Sie denn nie?« fragte er und hielt die Hände gegen das Feuer gerichtet.
Das glimmende Augenpaar blinkte. Sie trat näher, schaute auf ihn herab und legte den Ellbogen auf den Kaminsims. Der Feuerschein schimmerte auf schwarzer Haut. »Wir waren noch wach«, antwortete sie.
Trotz des Morgenmantels war ihm kalt, vor Übermüdung wohl, wie er dachte. Er brauchte Schlaf, um zum Frühstück mit der Aiji-Mutter ausgeruht zu sein.
»Ist das Haus genügend abgesichert?« fragte er.
»Allerdings, Nadi-ji. Wir befinden uns in einer Festung, die nach wie vor als solche durchaus tauglich ist.«
»Aber bei all den Touristen…«
»Apropos… für morgen ist eine Gruppe angemeldet. Seien Sie vorsichtig; es wäre gut, Sie bleiben ungesehen.«
Fröstelnd stand er vorm Feuer. Er kam sich klein und verwundbar vor. »Passiert es, daß sich einzelne von der Gruppe entfernen und heimlich an den Wachen vorbeischleichen?«
»Das ist bei Strafe verboten«, antwortete Jago.
»Den Paidhi umzubringen ist wahrscheinlich auch bei Strafe verboten«, murmelte er. Sein Morgenmantel hatte keine Taschen. Atevische Schneider ließen sich von der Zweckmäßigkeit solcher Applikationen kaum überzeugen. Er steckte die Hände in die Ärmel. »Darauf stehen mindest dreißig Tagessätze.«
Jago schmunzelte, was selten vorkam. Es beruhigte ihn.
»Ich bin mit Tabinis Großmutter zum Frühstück verabredet«, sagte er. »Banichi ist darüber verärgert.«
»Warum haben Sie sich darauf eingelassen?«
»Ich wollte nicht unhöflich sein. Hätte ich gewußt, daß ich damit Banichis Zorn auf mich lade…«
Jago schnaufte spöttisch. »Banichi ist sauer, weil er glaubt, daß er für Sie eine Art Süßspeise sein soll.«
Ihm blieb das Lachen im Halse stecken. Es war zu komisch: Banichis tumbe Verwirrtheit, sein, Brens, waisenknabenhafter Wunsch nach Zuneigung. Und nun Jagos unverhoffte Bereitschaft, sich mit ihm darüber zu unterhalten.
»Ich vermute, es hat sprachliche Unstimmigkeiten gegeben«, sagte Jago.
»Ich habe versucht zum Ausdruck zu bringen, wie sehr ich ihn schätze und respektiere«, antwortete er kühl, nüchtern, formelhaft und eingedenk der unüberwindlichen Barrieren, die einer Verständigung im Weg standen. »Respekt, Gunst… austauschbare Wörter.«
»Ach ja«, entgegnete Jago ohne jede Ironie. Nach ihrer Sprachauffassung bedeuteten diese beiden Wörter ganz und gar nicht dasselbe. Das wußte Bren; er wußte, daß die persönlichen Beziehungen zwischen Atevi anders funktionieren.
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