Atevi 2 - Eroberer
beschreiben vermochten. Denen ging es natürlich vor allem darum, gewisse menschliche Vorstellungen zu widerlegen, insbesondere solche, die sich zwar in der Praxis zu bewähren schienen, aber mit der eigenen Zahlenphilosophie nicht vereinbar waren. Und so kam es, daß im Verlauf der vergangenen zehn Jahre eine Fülle von eleganten Lösungen klassischer Probleme präsentiert worden war, die nun Computerfachleute und Mathematiker in ihre Überlegungen mit aufzunehmen versuchten.
Die Diener und Leibwachen des Paidhi waren bestimmt nicht bloß zu dessen Hilfe und Schutz abgestellt, sondern hatten vermutlich überdies den Auftrag, in seiner Handbibliothek herumzuschnüffeln und sicherzustellen, daß in ihr keine unerlaubten atevischen Quellen enthalten waren.
Verfluchte Situation. Ein Krieg der Wörterbücher. Begriffsstutzigkeit und sprachliche Ignoranz auf beiden Seiten, obwohl für jeden aus der Geschichte die Lehre zu ziehen war, daß der wirkliche Krieg und das grausame Blutvergießen nur deshalb hatte beendet werden können, weil sich ein weitsichtiger Aiji und ein Dolmetscher von Mospheira auf eine gleichbedeutende Auslegung der Begriffe ›Vertrag‹ und ›Bündnis‹ verständigt hatten.
Und nun kam Hanks daher und riskierte den Frieden. Und Tabini war genötigt, sämtliche Gremien der Legislative einzuberufen, nicht nur das Hasdrawad und das Tashrid, sondern auch die Provinzparlamente unter dem Vorsitz von Lords, die darauf warteten, die Macht zu ergreifen, sobald Tabini Schwächen zeigte.
Tabini steckte in der Klemme. Und er hatte recht: Es mußte ganz schnell etwas geschehen, wenn nicht ein Wunder, so zumindest ein überzeugender, dramatischer Auftritt vor den versammelten Abgeordneten und Lords. Die ganze atevische Welt wartete auf eine durchgreifende Reaktion des Bu-javid und auf plausible Erklärungen durch den Aiji und den Paidhi aus Mospheira.
Der Himmel allein wußte, was Hanks da ins Rollen gebracht hatte mit ihren dreisten Vorstößen; sie, die bei weitem noch nicht genügend Gespür für die atevische Sprache entwickelt hatte und allein schon darum in Teufels Küche geraten mußte.
Gedanken wie diese jagten einander im Kreis Stunde um Stunde, wie es schien; die Schmerzen in der Schulter kamen und gingen in pulsierender Bewegung, und vergeblich sehnte er sich nach Schlaf.
Er wußte, wenn er sich jetzt eine Schmerztablette und Wasser ans Bett bringen ließe, wäre er am Morgen außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Andererseits würde der Mangel an Schlaf womöglich auf das gleiche hinauslaufen. Es mußte rechtzeitig ein Adrenalinstoß her, der morgen, wenn es drauf ankommen würde, seinen Verstand auf Trab brächte.
Verdammt, stöhnte er im stillen. Verdammt.
Wenn sich doch die Zeit zurückdrehen ließe. Er würde noch einmal mit Tabini reden und andere Weichen stellen.
Er hätte auf dem Weg zum Flughafen vom Büro aus ein zweites Telefongespräch geführt.
Oh, Barb, wie konntest du nur? Paul, ausgerechnet der.
Aber als man ihm die Schulter gebrochen und er geglaubt hatte, sterben zu müssen, da war ihm nicht etwa Barb oder Toby oder sonst wer durch den Kopf gegangen, nein, nur die Berge. Berge und Schnee. Warum er nicht an Barb gedacht und keine Gefühle für sie empfunden hatte, war ihm im nachhinein selbst unerklärlich gewesen. Betroffen darüber, hatte er versucht, krampfhaft versucht, seine Empfindungen für Barb zu retten, indem er ihnen nachspürte, was ihm aber nicht gelungen war – damals nicht und auch nicht während des kurzen Aufenthaltes auf Mospheira.
Er hatte daran gedacht, bei ihr anzurufen.
Er war besorgt gewesen, weil er sie nicht erreicht hatte. Das war sein letzter Gedanke gewesen, bevor die Narkose wirkte: Wo ist sie? Also empfand er doch noch etwas für sie.
Ihre Nachricht hatte ihm einen schmerzhaften Stoß versetzt. Barb ging ihm verloren, und es konnte ihn kaum trösten, daß er sich eingestehen mußte, sie womöglich nie richtig geliebt, geschweige denn eine gemeinsame Zukunft geplant zu haben. Was verband ihn mit ihr? Ein sentimentales Gefühl, daß sich im Kellerloch auf Malguri flüchtig eingestellt hatte und später wieder, als er an den Heimatort mit all seinen vertrauten Bezügen zurückkehrt war? Was war nur los mit ihm, daß er sich in der schlimmsten Krise, in die er je geraten war, nicht an Barbs Gesicht erinnert hatte? Daß seine tiefsten Gefühle für einen anderen Menschen zumeist ausblieben und nur dann und wann zum Vorschein
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