Atevi 3 - Erbe
kein Wort für Liebe, auch keines für Freundschaft, nicht einmal eins für die beiläufige Art. Zu den Ironien dieser Sprache – oder der atevischen Geisteshaltung – zählte der Umstand, daß es einem Ateva in Lord Geigis Situation kaum möglich war, seine persönliche Einstellung klar zu machen, wenn es logische Gründe dafür gab, seinen Bündnispartnern zu mißtrauen, denn Bündnisse überlagerten alles, forderten alles, legten alles fest.
Bren war – menschlich gesprochen – recht gerührt über die Szene, die nun aus dem Blickfeld rückte, und er zweifelte nicht an der Zuverlässigkeit der Fabrikarbeiter und einfachen Bürger der weißgewaschenen Stadt, die nun im Fensterausschnitt auftauchte. Von ihnen waren die Blumen.
Doch die hohe und entrückte Warte, die er jetzt einnahm, relativierte sein Vertrauen. Auch im Hinblick auf Lord Geigi, obwohl der sich zur Zeit politisch auf den gewünschten Punkt hin ausrichtete: auf Tabini, den Aiji des Westbundes, Tabini, der Eigentümer dieses Flugzeugs war und über die Sicherheitskräfte verfügte sowie über alle loyalen Lords und Abgeordneten des ganzen Kontinents.
Man’chi. Nicht aus freien Stücken, sondern instinktiv gewählt. Gleiche Man’chi knüpften Bündnisse. Darüber hinaus gab es keine sinnvollen Überlegungen.
Auch der Begriff ›Grenze‹ als Demarkationslinie zwischen Ländern, über die das Flugzeug hinwegflog, war den Atevi unverständlich. Nach solchen Linien suchte man auf hiesigen Karten vergeblich. Wohl gab es Einträge von Landbesitzungen und Gemeinden, doch ihre ›Grenzen‹ waren fließend. Man sprach von ›Provinzen‹ in durchaus territorialem Sinn, doch in einem Kontext, der für Mospheiraner kaum nachzuvollziehen war. Das Land da unten hatte einfach keine Ecken und Kanten, genausowenig wie die Assoziationen, die ineinander übergriffen.
Solche Überlegungen weckten bei einem hier lebenden Menschen die Sehnsucht danach, sich in eindeutig menschlichen Bezügen bewegen zu können, menschlicher Resonanz zu begegnen und den Regungen des Herzens Geltung zu verschaffen.
Aber wäre so etwas wirklich und wahrhaftig? War eine Emotion auch dann als real zu bezeichnen, wenn das Gegenüber in seiner Antwort darauf etwas ganz anderes empfand?
Das Geräusch einer klatschenden Hand. War es das, was er hörte?
Die Maschine hatte ihre Reisehöhe erreicht und nahm Kurs auf Nordost. Vorm Fenster zeigten sich nun die Berge der südlichen Halbinsel, der Provinz Talidi, ein wiederum grenzloser Landstrich. Jenseits dieser im Hochnebel verschwindenden Bergkette lagen die unter dem Namen Marid Tasigin zusammengefaßten Küstenorte, auf die Lord Saigimi großen Einfluß ausgeübt hatte. Entsprechend hoch würden dort nun die Wellen schlagen, da die Nachricht von seiner Ermordung die Runde machte.
Vor dem Fenster auf der anderen Seite der kleinen Maschine sah Bren nichts als blauen Himmel. Er wußte, was zu erkennen wäre, wenn er aufstünde und nach unten blickte: dasselbe glitzernde, wellenbewegte Meer, das er von Geigis Balkon aus gesehen hatte, und denselben dunstigen Horizont, der die Südküste Mospheiras war.
Bren hatte an diesem Nachmittag keine Lust, aufzustehen und in diese Richtung zu schauen. Er hatte am Morgen schon soviel gesehen und soviel gegrübelt, daß er sich, ohne es zu ahnen, in seiner Empfindsamkeit eine kleine Stelle wundgerieben hatte, die er für durch und durch taub gehalten hatte.
Als er nun – törichterweise – darüber nachdachte, kam ihm Barb in den Sinn und seine Mutter und sein Bruder, und er fragte sich, wie das Wetter dort wohl sein würde und ob sein Bruder die Todesdrohungen für ein paar Stunden würde ignorieren und wieder an seinem Boot herumbasteln können so wie normalerweise an den Feierabenden im Frühling.
Diesen Teil seines Lebens mußte Bren ein für allemal vergessen. Daran durfte er nicht mehr rühren. Doch er war auf seiner Reise Mospheira nun so nahe, konnte vom Flugzeug aus zur Insel hinüberblicken, hatte auf Geigis Balkon gesessen und dabei so viel Zeit zum Nachdenken gehabt, daß er gar nicht umhin konnte, an Zuhause zu denken.
Der andere Teil seines Lebens, sein Job, seine Pflicht oder wie immer er es auch nennen mochte.
Jeder bejubelte Erfolg, so wie der jüngste in der Fabrik, war eine direkte Herausforderung an die gegnerischen Kräfte innerhalb des Bundes, die sich nur schwer eindämmen ließen. Wenn dies aber weiterhin gelänge, müßten bald auch die Dümmsten einsehen, daß den
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