Atevi 3 - Erbe
nicht, wie er seinen Leuten weitere Informationen entlocken sollte, die sie womöglich als vermeintlich unwichtige Details vergessen hatten.
Und er mußte äußerst vorsichtig sein. An der Schnittstelle zwischen atevischem Verantwortungsbewußtsein und menschlicher Emotionalität waren Fehler vorprogrammiert. Aus langjähriger Erfahrung wußte er einzuschätzen, wessen Man’chi welchem Lord galt, und er wußte von Tanos und Alginis Man’chi gegenüber Tabini, aber nur sehr wenig über deren Familienverbindungen oder darüber, wie sich ein auf einen Lord bezogenes Man’chi verhielt zu dem für die Mutter oder den Vater empfundenes Man’chi. Er hatte Tano von seinem Vater sprechen hören und von seiner Hoffnung, in dessen Augen Anerkennung zu finden, aber Bren wußte auch, daß sich Tano dem ausdrücklichen Wunsch des Vaters widersetzt hatte und in die Gilde eingetreten war. Er hatte sich von Tano für die Besetzung einzelner Posten im Büro ›verläßliche‹ Angehörige empfehlen lassen; und diese Verläßlichkeit war gewiß ihrem Man’chi geschuldet sowie der Tatsache, daß, wo Man’chi herrschte, Verrat so gut wie ausgeschlossen werden konnte.
Er wußte, daß sich Damiri den Zorn ihres Clans zugezogen hatte, dadurch, daß sie mit Tabini eine romantische und politische (oder besser: politische und romantische) Liaison eingegangen war, ausgerechnet mit Tabini, der aus einer seit alters her verfeindeten Familie aus der Nachbarschaft im Padi-Tal stammte und für Onkel Tatiseigi, dem Oberhaupt der Atigeini, gewiß eine Unperson war. Doch von dieser Antipathie auf Seiten des Clanobersten (dem sie aus Man’chi verpflichtet war) hatte Damiri sich nicht abhalten lassen. Eigensinnig war sie ja allemal.
Was Paidhiin in zwei Jahrhunderten über atevische Familienverhältnisse in Erfahrung gebracht hatten, ließ sich zusammenfassen in der Einsicht, daß Gefühlsbindungen, die eine menschliche Familie zusammenhalten, bei Atevi nicht nur nicht vorkommen, sondern biologisch unmöglich sind.
Atevi waren anders verdrahtet.
Hatten andere Erwartungen.
Andere Beziehungen und andere Notwendigkeiten.
Zum Beispiel war nicht klar, was ein atevisches Kind von seinen Eltern erwartete. Versorgung und Schutz, gewiß. Die Trennung vollzog sich meist im Alter zwischen siebzehn und zwanzig Jahren. Mehr gab alle gesammelte Erfahrung nicht her. Alles weitere wurde in der einschlägigen Literatur als spekulativ bezeichnet. Bren hielt allerdings für möglich, daß, so wie sich heranwachsende Menschen aus der emotionalen Abhängigkeit der Eltern befreien müssen, auch Atevi aus dem Man’chi gegenüber ihren Eltern herauswachsen müssen, damit es zu einer wirklich intakten Familieneinheit kommen kann. Es mußte an irgendeiner Stelle psychologisch zum Bruch kommen, ohne den es jenseits der Familie keine kulturelle Entwicklung gäbe.
»Angenommen, ein Ateva hätte eine solche Nachricht erhalten«, fragte Bren seine beiden Gefährten und Beschützer, die er, wenn es Menschen wären, Freunde genannt hätte. »Wie würde er sich nach den Erwartungen anderer Atevi verhalten? Was glaubten diese, wie er unter solchen Umständen empfinden oder wie er sich verhalten würde?«
»Wenn die Beziehung zum Vater gut war, würde er wohl trauern, nand’ Paidhi«, antwortete Tano. »Er würde ins Totenhaus gehen und seinen Vater begraben. Und er würde sein Man’chi gegenüber diesem Haus und allen Angehörigen bekräftigen.«
Man’chi. Das war für Atevi nicht bloß irgendeine, sondern die alles entscheidende Emotion. Der Heimfindeinstinkt unter Beschuß. Der Ort, an den es einen hinzieht. Die Person, die man aus einem brennenden Haus bergen würde.
»Darf ich fragen, wie sich ein Man’chi bekräftigen läßt, Nadi? Sie brauchen natürlich nicht zu antworten, wenn ich mit dieser Frage das Gebot der Schicklichkeit verletze.«
»Man besucht das Elternhaus. Man erinnert sich. Man kommt mit den Angehörigen zusammen und will unter anderem erfahren, wem deren Man’chi nun gelten mag, da ein Man’chi erlischt. Die Familienstrukturen müssen neu geordnet werden.«
»Das Man’chi zu einem Verstorbenen wird also abgelegt.«
»In der Erde, nand’ Paidhi, oder im Feuer. Man’chi kann nur Lebenden gelten.«
»Niemals einem Toten?« Bren hatte schon viele Machimi-Spiele gesehen; darin waren Man’chi und seine subtilen Ableitungen stets Dreh- und Angelpunkt in der aus Betrug, Intrige und Vergeltung bestehenden Erzählung. »In den Spielen ist
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