Atlantis
zwanzig Seiten, um obendrein festzustellen, dass Herr der Fliegen ein Wahnsinnsbuch war, vielleicht das Beste, das er je gelesen hatte. Nach zehn Seiten war er bereits gefesselt; nach zwanzig Seiten war es um ihn geschehen. Er lebte mit Ralph, Jack, Piggy und den Kleinen auf der Insel; er zitterte wegen des Untiers, das sich als verwesender, in seinem Fallschirm gefangener Flugzeugpilot erwies; er verfolgte zuerst entrüstet und dann entsetzt, wie ein Haufen harmloser
Schuljungen auf die Stufe von Wilden herabsanken und schließlich darangingen, den Einzigen unter ihnen, der halbwegs menschlich geblieben war, zu jagen und zur Strecke zu bringen.
Er beendete das Buch an einem Samstag in der Woche, bevor das Schuljahr endete. Als es Mittag wurde und Bobby noch immer auf seinem Zimmer war - es waren keine Freunde zum Spielen gekommen, er hatte sich keine Samstagmorgens-Zeichentrickserien im Fernsehen angesehen, nicht mal Merry Melodies , das von zehn bis elf lief -, schaute seine Mutter herein und sagte ihm, er solle aufstehen, die Nase aus diesem Buch nehmen und in den Park gehen oder so.
»Wo ist Sully?«, fragte sie.
»Auf dem Dalhouse Square. Das Schulorchester gibt da ein Konzert.« Bobby sah seine Mutter in der Tür und die normalen Sachen um sie herum mit einem benommenen, verdutzten Blick an. Die Welt der Geschichte war für ihn so lebendig geworden, dass ihm diese reale Welt nun falsch und trist erschien.
»Was ist mit deiner Freundin? Geh doch mit der in den Park.«
»Carol ist nicht meine Freundin, Mama.«
»Na, egal, was sie ist. Du liebe Güte, Bobby, ich hab ja nicht unterstellt, ihr beide würdet von zu Hause weglaufen und miteinander durchbrennen.«
»Sie und ein paar andere Mädchen haben gestern bei Angie geschlafen. Carol sagt, wenn sie da übernachten, bleiben sie praktisch die ganze Nacht auf und quatschen miteinander. Die liegen bestimmt noch im Bett oder essen jetzt grade ein Frühstück zu Mittag.«
»Dann geh allein in den Park. Du machst mich nervös. Wenn am Samstagvormittag der Fernseher aus ist, denke ich immer, du bist tot.« Sie kam in sein Zimmer und pflückte ihm das Buch aus den Händen. Bobby sah mit einer Art betäubter Faszination zu, wie sie darin herumblätterte und hier und dort ein paar Sätze las. Angenommen, ihr kam der Teil unter die Augen, wo sich die Jungs darüber unterhielten, dass sie dem Wildschwein ihre Speere in den Arsch gesteckt hatten? Was würde sie davon halten? Er wusste es nicht. Sie lebten zusammen, seit er auf der Welt war, und die meiste Zeit waren sie miteinander allein gewesen, aber er konnte trotzdem nicht vorhersagen, wie sie in einer bestimmten Situation reagieren würde.
»Ist dies das Buch, das Brattigan dir gegeben hat?«
»Ja.«
»Als Geburtstagsgeschenk?«
»Ja.«
»Wovon handelt es?«
»Von Jungen auf einer Insel, die von der Außenwelt abgeschnitten sind. Ihr Schiff wird versenkt. Ich glaube, es spielt nach dem Dritten Weltkrieg oder so. Der Bursche, der es geschrieben hat, äußert sich dazu nicht so genau.«
»Dann ist es also Science-Fiction.«
»Ja«, antwortete Bobby. Ihm war ein bisschen schwindlig. In seinen Augen hatte Herr der Fliegen denkbar wenig mit Ring um die Sonne zu tun, aber seine Mutter hasste Science-Fiction, und wenn etwas sie von ihrem möglicherweise gefährlichen Herumblättern abhalten konnte, dann das.
Sie gab ihm das Buch zurück und ging zum Fenster hinüber. »Bobby?« Sie schaute nicht zu ihm zurück, jedenfalls nicht sofort. Sie trug eine alte Bluse und ihre Samstagshose.
Das helle Mittagslicht schien durch die Bluse; er konnte ihre Seiten sehen und bemerkte zum ersten Mal, wie dünn sie war, als vergäße sie zu essen oder so. »Ja, Mama?«
»Hat Mr. Brattigan dir noch weitere Geschenke gemacht?«
»Er heißt Brautigan , Mama.«
Stirnrunzelnd musterte sie ihr Spiegelbild im Fenster … oder wohl eher sein Spiegelbild. »Verbessere mich nicht, Bobby-O. Hat er?«
Bobby dachte darüber nach. Ein paar Flaschen Rootbeer (dabei mochte Bobby diese Kräuterlimonade gar nicht besonders), manchmal ein Thunfischsandwich oder einen Berliner aus der Bäckerei, in der Sullys Mutter arbeitete, aber keine Geschenke. Nur das Buch, und das war eins der tollsten Geschenke, die er je bekommen hatte. »Natürlich nicht, warum sollte er?«
»Weiß ich nicht. Aber ich weiß auch nicht, warum ein Mann, den du gerade erst kennengelernt hast, dir überhaupt was zum Geburtstag schenkt.« Sie seufzte, verschränkte die
Weitere Kostenlose Bücher