Atlantis
Müllcontainern, klar.«
»Können wir uns da treffen?«, sagte Carol. »In einer Viertelstunde. Geht das?«
»Ja.«
»Ich muss noch reichlich pauken, deshalb kann ich nicht lange bleiben, aber ich … ich will einfach …«
»Ich komme hin.«
Ich hängte ein und verließ die Zelle. Ashley Rice stand im Eingang des Aufenthaltsraums, rauchte und tanzte einen kleinen Shuffle. Ich schloss daraus, dass er gerade irgendwo ausgeschieden war. Sein Gesicht war zu blass, die schwarzen Stoppeln auf seinen Wangen zeichneten sich wie Bleistiftstriche ab, und sein Hemd war nicht mehr nur schmutzig; es sah aus, als lebte er seit Wochen darin. Seine Augen waren geweitet, und er strahlte so etwas wie »Lebensgefahr! Hochspannung!« aus, ein Ausdruck, den ich später mit Kokainsüchtigen assoziierte. Und das war das Spiel in Wirklichkeit auch: eine Art Droge. Aber keine von der Art, die einen sanftmütig machte.
»Wie steht’s, Pete?«, fragte er. »Wollen wir ein paar Spiele machen?«
»Vielleicht später«, sagte ich und ging durch den Flur davon. Stoke Jones stapfte in einem zerschlissenen alten Bademantel vom Badezimmer zurück. Seine Krücken hinterließen nasse runde Spuren auf dem dunkelroten Linoleum. Seine langen, wirren Haare waren nass. Ich fragte mich, wie er unter der Dusche zurechtkam; damals gab es natürlich noch keine solchen Geländer und Haltegriffe, wie sie später in öffentlichen sanitären Anlagen üblich wurden. Er sah jedoch nicht so aus, als hätte er große Lust, über dieses Thema zu diskutieren. Oder über irgendein anderes.
»Na, wie geht’s, Stoke?«, fragte ich.
Er ging vorbei, ohne zu antworten, den Kopf gesenkt, das tropfnasse Haar an die Wangen geklebt, Seife und Handtuch
unter einen Arm geklemmt, und murmelte »Ratz- fatz , ratz- fatz « vor sich hin. Er blickte nicht einmal zu mir auf. Man konnte über Stoke Jones sagen, was man wollte, auf eins war Verlass, nämlich dass er einem den Tag immer mit einem kleinen Leck-mich verschönerte.
21
Carol war schon beim Holyoke, als ich dort ankam. Sie hatte zwei Milchkästen aus der Ecke mitgebracht, wo die Müllcontainer aufgereiht waren. Auf einem davon saß sie, hatte die Beine übereinandergeschlagen und rauchte eine Zigarette. Ich setzte mich auf den anderen, legte den Arm um sie und küsste sie. Sie legte den Kopf für einen Moment wortlos an meine Schulter. Das sah ihr nicht ähnlich, aber es war nett. Ich ließ meinen Arm, wo er war, und blickte zu den Sternen hinauf. Die Nacht war mild für diese späte Jahreszeit, und eine Menge Leute - vor allem Pärchen - gingen draußen spazieren, um das Wetter auszunutzen. Ich hörte ihre leisen Gespräche. Im Speisesaal des Commons über uns ertönte »Hang On, Sloopy« aus einem Radio. Einer der Hausmeister vermutlich.
Carol hob endlich den Kopf und rückte ein wenig von mir ab - gerade genug, um mich wissen zu lassen, dass ich meinen Arm wieder wegnehmen konnte. Das sah ihr schon eher ähnlich. »Danke«, sagte sie. »So eine Umarmung hatte ich dringend nötig.«
»Gern geschehen.«
»Ich hab ein bisschen Angst vor der Konfrontation mit meinem Vater. Keine richtige Angst, aber ein bisschen.«
»Das wird schon gut gehen.« Ich sagte das nicht, weil ich wirklich dachte, dass es gutgehen würde - so was konnte ich gar nicht wissen -, sondern weil man das nun mal sagt, oder? Das sagt man nun mal.
»Mein Dad ist nicht der Grund, weshalb ich mit Harry und George und den anderen mitgefahren bin. Es ist keine große freudianische Rebellion oder so.«
Sie schnipste ihre Zigarette weg, und wir sahen zu, wie sie Funken sprühte, als sie auf die Ziegelsteine von Bennett’s Walk fiel. Dann nahm sie ihre kleine Handtasche von ihrem Schoß, öffnete sie, suchte ihre Brieftasche, öffnete diese wiederum und blätterte eine Sammlung von Schnappschüssen durch, die in den kleinen Zelluloidfenstern steckten. Sie hielt inne, zog einen heraus und gab ihn mir. Ich beugte mich vor, damit ich ihn mir in dem Licht ansehen konnte, das durch die Fenster des Speisesaals herausfiel, in dem die Hausmeister wahrscheinlich gerade den Fußboden schrubbten.
Das Bild zeigte drei Kinder im Alter von elf oder zwölf Jahren, ein Mädchen und zwei Jungen. Sie trugen alle blaue T-Shirts mit der Aufschrift STERLING HOUSE in roten Blockbuchstaben. Sie standen irgendwo auf einem Parkplatz und hatten die Arme umeinandergelegt - eine einfache Freunde-fürs-Leben-Pose, die irgendwie schön war. Das Mädchen stand in der Mitte.
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