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Atlantis

Titel: Atlantis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Das Mädchen war natürlich Carol.
    »Welcher ist Sully-John?«, fragte ich. Sie sah mich ein bisschen überrascht an … aber mit dem Lächeln. Jedenfalls glaubte ich es bereits zu wissen. Sully-John war bestimmt der mit den breiten Schultern, dem breiten Grinsen und den zerzausten schwarzen Haaren. Sie erinnerten mich an Stokes Haare, obwohl der Junge offensichtlich mit einem Kamm
durch diese Mähne gefahren war. Ich tippte darauf. »Der hier, stimmt’s?«
    »Das ist Sully«, bestätigte sie und berührte dann das Gesicht des anderen Jungen mit ihrem Fingernagel. Er war nicht braun, sondern hatte eher einen Sonnenbrand. Sein Gesicht war schmaler, die Augen standen ein wenig näher beisammen, das Haar war karottenrot und zu einem Bürstenschnitt gemäht, mit dem er wie ein Kind auf einem Norman-Rockwell-Titel der Saturday Evening Post aussah. Auf seiner Stirn war eine feine Linie, die vom Stirnrunzeln herrührte. Sullys Arme waren bereits muskulös für ein Kind; der andere Junge hatte dünne Arme, spindeldürre Arme. Wahrscheinlich hatte er auch jetzt noch spindeldürre Arme. An der Hand, die nicht um Carols Schultern lag, trug er einen großen braunen Baseballhandschuh.
    »Das ist Bobby«, sagte sie. Ihre Stimme hatte sich irgendwie verändert. Es lag etwas darin, was ich noch nie gehört hatte. Kummer? Aber sie lächelte immer noch. Wenn sie Kummer empfand, warum lächelte sie dann? »Bobby Garfield. Er war mein erster Freund. Meine erste Liebe, könnte man, glaube ich, sagen. Er und Sully und ich waren damals die besten Freunde. Ist noch gar nicht so lange her - 1960 war das -, aber es kommt mir vor, als würde es schon eine Ewigkeit zurückliegen.«
    »Was ist aus ihm geworden?« Ich war mir irgendwie sicher, dass sie mir erzählen würde, er sei gestorben, dieser Junge mit dem schmalen Gesicht und dem karottenroten Bürstenschnitt.
    »Er ist mit seiner Mutter weggezogen. Wir haben uns noch eine Weile geschrieben, und dann haben wir uns aus den Augen verloren. Du weißt ja, wie Kinder sind.«

    »Hübscher Baseballhandschuh.«
    Carol, immer noch mit dem Lächeln. Ich konnte die Tränen sehen, die in ihre Augen getreten waren, als wir so dasaßen und auf den Schnappschuss hinunterschauten, aber sie lächelte dennoch. Im weißen Licht der Neonröhren, das aus dem Speisesaal herausfiel, sahen ihre Tränen silbern aus - die Tränen einer Märchenprinzessin.
    »Bobby war völlig vernarrt in das Ding. Es gibt einen Baseballspieler namens Alvin Dark, richtig?«
    »Gab es, ja.«
    »So einen Handschuh hatte Bobby. Ein Alvin-Dark-Modell.«
    »Meiner war ein Ted Williams. Ich glaube, meine Mutter hat ihn vor ein paar Jahren auf dem Flohmarkt verkauft.«
    »Der von Bobby ist gestohlen worden«, sagte Carol. Ich bin mir nicht sicher, ob sie noch wusste, dass ich da war. Sie berührte das schmale, leicht finster dreinschauende Gesicht immer wieder mit der Fingerspitze. Es war, als wäre sie in ihre eigene Vergangenheit zurückgekehrt. Ich habe gehört, dass Hypnotiseure das mit guten Versuchspersonen hinkriegen. »Willie hat ihn genommen.«
    »Willie?«
    »Willie Shearman. Ich hab ihn ein Jahr später damit beim Sterling House Baseball spielen sehen. Ich war stinkwütend. Meine Mutter und mein Dad haben sich damals ständig gestritten - sie haben wohl schon auf die Scheidung hingearbeitet -, und ich war permanent wütend. Wütend auf sie, wütend auf meinen Mathelehrer, wütend auf die ganze Welt. Ich hatte immer noch Angst vor Willie, aber vor allem war ich wütend auf ihn und … außerdem war ich nicht allein, nicht an diesem Tag. Darum bin ich direkt zu ihm
hinmarschiert und hab gesagt, ich wüsste, dass das Bobbys Handschuh wäre, und er sollte ihn mir geben. Ich hab gesagt, ich hätte Bobbys Adresse in Massachusetts, und ich würde ihm den Handschuh schicken. Willie sagte, ich wäre verrückt, das sei sein Handschuh, und er hat mir seinen Namen an der Seite gezeigt. Er hatte den von Bobby weggemacht - so gut er konnte, jedenfalls - und seinen eigenen drübergeschrieben. Aber ich konnte noch das bby von Bobby sehen.«
    Eine gespenstische Empörung hatte sich in ihre Stimme geschlichen. Sie bewirkte, dass Carol jünger klang. Und jünger aussah . Möglich, dass die Erinnerung trügt, aber ich glaube es nicht. Wie sie da am Rand des grellen Lichtscheins saß, der aus dem Speisesaal fiel, sah sie wie ungefähr zwölf aus. Höchstens wie dreizehn.
    »Aber er konnte die Alvin-Dark-Unterschrift in der Tasche nicht wegmachen

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