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Atlantis

Titel: Atlantis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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meine Armbanduhr. Ich war früh zu dem Wohnheim gekommen (vielleicht das Werk dieser halb bewussten Vorahnung), und es war gerade erst kurz nach drei. Ich konnte mühelos beim Trailways-Bahnhof sein, bevor ihr Bus nach Connecticut fuhr aber ich würde nicht hinfahren. Sie hatte recht, wir hatten uns in meinem alten Kombi auf wunderschöne Weise voneinander verabschiedet; alles Weitere wäre ein Schritt zurück. Im besten Fall würden wir uns nur wiederholen; im schlechtesten Fall würden wir die gestrige Nacht durch einen Streit mit Dreck bespritzen.
    Wir wollen Informationen.
    Ja. Und wir hatten sie bekommen. Weiß Gott, wir hatten sie bekommen.
    Ich faltete ihren Brief zusammen, steckte ihn in die Gesäßtasche meiner Jeans und fuhr heim nach Gates Falls. Zuerst verschwamm mein Blick dauernd, und ich musste mir immer wieder die Augen wischen. Dann schaltete ich das Radio ein, und die Musik machte es ein bisschen besser. Das tut die Musik immer. Ich bin jetzt über fünfzig, und die Musik macht noch immer alles besser; das ist dieser sagenhafte Automatismus.

27
    Ich traf gegen halb sechs in Gates ein, ging ein wenig vom Gas, als ich an Frank’s vorbeikam, fuhr dann jedoch weiter. Mittlerweile wollte ich viel lieber nach Hause, als ein Hires vom Fass zu trinken und mit Frank Parmeleau zu plauschen. Meine Mutter hieß mich willkommen, indem sie mir erklärte, ich sei zu mager, meine Haare seien zu lang, und ich hätte nicht »nah genug beim Rasierapparat gestanden«. Dann setzte sie sich in ihren Schaukelstuhl und weinte ein bisschen über die Rückkehr des verlorenen Sohnes. Mein Dad gab mir einen Kuss auf die Wange, drückte mich mit einem Arm an sich und schlurfte dann zum Kühlschrank, um sich ein Glas von Mutters rotem Tee einzuschenken. Sein Kopf ragte aus dem Halsausschnitt seines alten braunen Pullovers nach vorn wie der Kopf einer neugierigen Schildkröte.
    Wir - das heißt, meine Mutter und ich - glaubten, dass er noch ein Sehvermögen von zwanzig Prozent hatte, vielleicht ein bisschen mehr. Es war schwer zu sagen, weil er so wenig sprach. Ein Unfall im Verpackungsraum hatte ihn fertiggemacht, ein schrecklicher, zwei Stockwerke tiefer Sturz. Er hatte Narben in der linken Gesichtshälfte und an der linken Seite des Halses und an einer eingebeulten Stelle des Schädels wuchsen keine Haare mehr. Der Unfall hatte ihm weitgehend das Augenlicht geraubt und auch seinen Verstand in Mitleidenschaft gezogen. Aber er war kein »totaler Matschkopp«, wie ihn irgendein Arschloch in Gendron’s Barber Shop mal in meiner Gegenwart genannt hatte, und er war auch nicht stumm, wie manche Leute zu glauben schienen. Er hatte neunzehn Tage im Koma gelegen. Seit er
wieder aufgewacht war, redete er nur noch sehr wenig, das ist wahr, und er war oft schrecklich verwirrt, aber manchmal war er geistig noch da, absolut präsent und voll zurechnungsfähig. Als ich nach Hause kam, war er immerhin so weit da, dass er mir einen Kuss geben und mich mit dem einen Arm drücken konnte, seine Art der Umarmung, so lange ich zurückdenken konnte. Ich liebte meinen alten Herrn sehr … und nach einem Semester voller Kartenspiele mit Ronnie Malenfant hatte ich gelernt, dass Reden eine krass überschätzte Fähigkeit ist.
    Ich setzte mich eine Weile zu ihnen, erzählte ihnen ein paar von meinen College-Geschichten (allerdings nichts von der Schlampenjagd) und ging dann hinaus. Ich rechte in der Dämmerung heruntergefallenes Laub zusammen - die frostige Luft an meinen Wangen war eine echte Wohltat -, winkte den vorbeigehenden Nachbarn zu und aß am Abend drei Hamburger meiner Mutter. Danach erzählte sie mir, sie wolle in die Kirche, wo die Ladies’ Aid - eine Wohltätigkeitsorganisation der Frauen des Ortes - Thanksgiving-Mahlzeiten für Leute zubereite, die ans Haus oder ans Bett gefesselt seien. Sie glaube nicht, dass ich meinen ersten Abend daheim mit einer Schar alter Hennen verbringen wolle, aber ich könne gern zu dem Gluckentreffen mitkommen, wenn ich Lust hätte. Ich dankte ihr und sagte, ich würde stattdessen lieber Annmarie anrufen.
    »Warum überrascht mich das nicht?«, sagte sie und ging hinaus. Ich hörte, wie der Wagen angelassen wurde, und dann schleppte ich mich ohne große Begeisterung zum Telefon und rief Annmarie Soucie an. Eine Stunde später kam sie mit dem Pick-up ihres Vaters herüber, lächelnd, die offenen Haare bis auf die Schultern, vor Lippenstift strahlende Lippen.
Das Lächeln hielt nicht lange vor, wie Sie sich

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