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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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als ob die Vögel nicht nur dieses Gartens, sondern der ganzen Stadt, deren Motoren- und Maschinenlärm nur als gleichförmiges, gedämpftes Brausen in das tiefe Grün drang, von einem Maler in ein Ornament verwandelt und auf eine riesige Vase gebannt worden wären.
    Das Bild eines abendlichen, wuchernden Gartens, der für eine Festgesellschaft bereit war, verlor aber plötzlich sein Gleichgewicht und alle Harmonie, ja begann zu kippen, als ich sah, daß der Sockel der Vase drei Handbreit oder mehr über den Rand des Podestes hinaus ins Leere ragte, so weit hinaus, daß das Gefäß jeden Augenblick fallen und zerspringen konnte. Wenn ein Kran dieses Schwergewicht auf das Podest gehoben hatte – ich glaubte Reifenspuren auf dem Rasen zu sehen –, war dem Kranführer nicht aufgefallen, daß er die Vase nur mit kaum mehr als der Hälfte ihrer Standfläche auf festen Grund gestellt hatte.
    Seltsam, mit einem ungeheuren Gefäß, das jederzeit kippen, fallen und zerspringen konnte, allein zu sein. Ich wollte mich dem gefährdeten Gleichgewicht nicht nähern. Fiel das Ding, konnte schließlich nur der Schuld daran tragen, der ihm in diesem Augenblick am nächsten war – ich, ein Eindringling, ein Fremder. Außerdem hätte jeder Versuch, die Vase in eine stabile Position zu rücken, die Kraft mehrerer Männer und gewiß einige Hilfsmittel, wenn nicht einen Kran erfordert.
    Als ob sich der ganze Garten, selbst die Mauern und Wohntürme an seinem Rand, allmählich in jene Richtung neigten, in die das Gefäß, wenn es fiel, fallen mußte, überkam mich das Gefühl, auch das eigene Gleichgewicht zu verlieren, zu schwanken, zu fallen, um dann auf einer schiefen Ebene dorthin zurückzurutschen, zurückzurollen, woher ich gekommen war, durch das Stacheldrahttor hinaus, durch Hinterhöfe und eine glasscherbenbewehrte Mauer entlang in eine Sackgasse. Schief!, alles neigte sich, alles war schief. Das leichteste Grollen eines der unzähligen Vulkane dieses Landes – und sei es ein kaum wahrnehmbares, seismisches Zittern der Gletscher zwischen den Palmen, konnte,
mußte
die Vase zu Fall bringen.
    Aber das Gefäß blieb unbewegt, als ein Windstoß in die Bäume fuhr und im Blätterrauschen plötzlich eine Trillerpfeife ertönte und das in weiße Hemden mit schwarzen Fliegen und weiße Blusen und weiße Röcke unter schwarzen Schürzen gekleidete Bedienungspersonal des Festes in Zweierreihe den Garten betrat: vierzehn Männer und Frauen, die ich für Indios hielt. Sie wurden kommandiert von einem spindeldürren Mann im Smoking, der seine Arme wie ein Zeremonienmeister dahin und dorthin ausstreckte und dazu Signale mit einer Trillerpfeife gab. Die Indios trugen weiße Lampions und mit weißen Kerzen besteckte Silberleuchter, die auf den Tischen entzündet wurden. Niemand kümmerte sich um mich. In meinen schwarzen Jeans und meinem schwarzen Hemd war ich ja vielleicht ein verfrühter Gast. Die Abendgesellschaft konnte aber nicht mehr weit sein.
    Und dann fiel der Blick des spindeldürren Mannes, der eben einen Silberleuchter zurechtrücken wollte, auf die Vase, die zu fallen drohte. Noch im gleichen Augenblick setzte er sich in Bewegung, ging aber ohne Eile auf das Podest zu und rief dabei auch keinen seiner Untergebenen zu Hilfe, sondern trat an die Vase, als könnte ein spindeldürrer Mann ihr Zentner-, vielleicht Tonnengewicht bewegen – und breitete seine Arme aus und schob sie mühelos, fast beiläufig, zurück in die Mitte des Podestes. Federleicht! Das Ding war federleicht!, war aus Pappmaché oder leichtestem Kunststoff, auch wenn es selbst aus geringer Entfernung mit gebranntem, bemaltem Porzellan zu verwechseln war.
    Unter den Händen des Zeremonienmeisters glitten aber plötzlich nicht nur die Vase, sondern auch der Rasenteppich, Sträucher, Tische und Bäume aus einer schiefen Ebene in ein sicheres Gleichgewicht zurück, ja verloren mit gleicher Plötzlichkeit wie die Vase ihr Gewicht:
    Denn wenn dieses riesige Gefäß federleicht war, dann konnten auch die Palmen, die Baumfarne, die Wohntürme, selbst die vergletscherten Bergketten nicht viel wiegen. Turmhohe Washingtonia-Palmen begannen wie Zittergräser zu schwanken, bemooste, glasscherbenbewehrte Mauern flatterten wie Papiergirlanden, reich gedeckte Tische erhoben sich bei Kerzenschein leicht wie gefallenes Laub in die Luft, Silberbesteck, weiße Porzellanteller, selbst die nun erloschenen Gletscher gaukelten wie Ascheflocken oder Seidenpapier durch die von keiner

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