Atlas eines ängstlichen Mannes
Blaulicht und Folgetonhorn eingetroffen war, galt alle auf dem Marktplatz verfügbare Aufmerksamkeit dem kleinen, von Menschen umdrängten Raum, den der Sterbende oder bereits Tote einnahm.
Während der Arzt über seinen Wiederbelebungsversuchen in Schweiß geriet, klammerte sich die Freundin noch zweimal an die Hoffnung, daß der Schläfer am Pflaster doch bloß gespielt, nur gespielt wurde, wenn diesmal auch mit einer unerklärlichen, furchtbaren Beharrlichkeit. Aber er hatte doch jetzt geatmet. Hatte er nicht geatmet? Sie kniete neben ihm und flüsterte
Schläfst du, schläfst du schon wieder. Du schläfst schon wieder.
Dann erhob sich der Arzt und sprach so leise mit den wartenden Rettungsmännern, daß keiner der Zuschauer ihn verstand. Aber es gab keinen Zweifel, daß nun nichts mehr zu retten war. In einer mitleidigen Geste brachten die Rotkreuzmänner den Lehrer dann im Rettungswagen in die Totenkammer des nahen Friedhofs im Schatten des großen Benediktinerklosters von Lambach, dessen prachtvolles Portal von den Parkbänken zu sehen war. Mitleidig, denn Rettungswagen mußten laut Vorschrift den Lebenden vorbehalten bleiben. Der Lehrer aber war zu diesem Zeitpunkt dem Leben schon sehr fern.
Der lange Kreuzgang des Benediktinerklosters lag in der prallen Sonne, als ich ihn Stunden später, auf dem Weg zum Friedhof, entlangging. Als ich die Totenkammer betrat, war ich vom grellen Licht des Sommertages so geblendet, daß ich in den ersten Augenblicken weder den aufgebahrten Leichnam noch den Gehilfen des Bestatters sah, der dem Toten die Uhr vom Handgelenk streifte, um sie zusammen mit einer Börse, einem Kamm, Taschentuch und Schlüsselbund den
Hinterbliebenen
zu übergeben.
Die Kleidung des Toten – eine helle, kurze Hose, Sandalen, ein kurzärmeliges Hemd – stand in einem seltsamen Widerspruch zu dem schwarzen Katafalk, auf dem er lag: So luftig gekleidet saß man auf sommerlichen Parkbänken, in Liegestühlen, am Springbrunnen eines Parks.
Die Haut des Toten, sein Gesicht, seine Arme, hatten in den ersten Stunden der Ewigkeit die Farbe des Herztodes angenommen, der das hellrote, fließende Blut unter Sauerstoffmangel blau, blauviolett werden ließ. Ich glaubte an der rechten Hand des Aufgebahrten noch die Restwärme des Lebens zu spüren, als ich sie ergriff. Der Gehilfe sah mich nicht an, sah aber eine Tränenspur, die über diese blaue Hand lief, und wollte mich trösten und zeigte behutsam auf die Stirn des Toten und sagte, das wird verschwinden, das Blau wird verschwinden, am Abend wird Ihr Vater wieder sein, wie er war.
Im Weltraum
Ich sah eine samtschwarze, von unzähligen Lichtpunkten tätowierte Finsternis über mir, ein scheinbar grenzenloses, bis an die fernsten Abgründe des Alls ausgespanntes Firmament, während ich auf dem flachen Boden eines Kahns lag, der unter den Ruderschlägen eines Fährmanns aus dem Volk der Maori durch die Nacht glitt.
Das verzweigte, von Wasseradern durchflutete Höhlensystem, durch das mich der Fährmann ruderte und stakte, führte vom Ufer des Lake Te Anau auf der Südinsel Neuseelands tiefer ins Innere der Murchison Mountains. Daß dort draußen, an einem von Eisrinden klirrenden Seeufer, ein Augusttag zu Ende ging, ein stürmischer Wintertag, der auf den Pässen Neuschnee gebracht hatte, war hier, im Inneren des Gebirges, ohne Bedeutung. Hier herrschten durch alle Jahreszeiten hindurch gleichbleibende Temperatur und eine windstille Finsternis, in der trotz aller Sternwolken, galaktischen Nebel und Kugelsternhaufen über meinem Kopf weder der Fährmann noch sein Ruder oder auch nur die eigene Hand vor den Augen zu sehen war.
Das Abbild des Nachthimmels an den Höhlendecken, das sich im glatten Wasser spiegelte, bis der Fährmann den Spiegel Ruderschlag für Ruderschlag zertrümmerte, wurde von den Larven eines Zweiflüglers aus der Familie der Pilzmücken in die undurchdringliche Schwärze gestochen, von zwei bis drei Zentimeter langen leuchtenden Würmchen, die mit ihrem bläulichen Schein Eintags- und Köcherfliegen, Nachtfalter oder verirrte Motten in einen Vorhang aus hauchzarten, klebrigen Fangschnüren aus Seide lockten, an denen sie dann die aus der Finsternis gefischte Beute in ihre Nester hochzogen und fraßen. Völlige Windstille war eine Grundbedingung dieser Jagd, die deshalb am erfolgreichsten in Höhlen betrieben wurde, denn beim leisesten Hauch mußten sich die sechzig und siebzig Fangschnüre, die von jedem Seidennest herabhingen, so
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