Atme nicht
kaum erwarten, dich wiederzusehen.«
Kann’s kaum erwarten . War das bloß eine nette Bemerkung, weil sie es schön fand, einem alten Freund wiederzubegegnen? Oder war da ein Unterton in ihrer Stimme, etwas, das sich damit vergleichen ließ, wie sie mich bei unserem letzten Treffen angefasst hatte?
Vielleicht sollte ich einfach froh sein, dass sie mich sehen wollte. Vielleicht sollte ich das Gespräch schnellstens beenden, bevor ich zu viel sagte.
»Dann bis morgen«, erwiderte ich. Mir war ganz flau im Magen und ich hatte einen Kloß im Hals. Morgen. Nach einem Jahr würde ich Val morgen endlich wiedersehen.
Beim Abendessen dachte ich immer noch über das nach, was mir am Rande des Steinbruchs durch den Kopf gegangen war, als ich mir vorgestellt hatte zu fallen, ohne unten aufzuschlagen.
»Als du heute Morgen gejoggt hast, war ein Mädchen hier und hat nach dir gefragt«, teilte Mom mir mit. »Ich hab sie schon mal in unserer Gegend gesehen … kann mich aber nicht an ihren Namen erinnern …«
»Ein Mädchen?«, erwiderte ich. Erst dann begriff ich, dass sie Nicki meinte. Nicki war für mich kein Mädchen, zumindest nicht in dem Sinne wie Val. »Oh, Nicki Thornton. Sie wohnt unten an der Route 7.« Ich spießte ein paar grüne Bohnen auf. »Da fällt mir ein, dass wir morgen eine Tageswanderung machen und was zu essen mitnehmen wollen und so.« Das würde erklären, warum ich den ganzen Tag weg war.
»Denk dran, dein Handy einzustecken, damit ich dich erreichen kann. Ist sie deine Freundin?«
»Nein.«
»Wenn sie eine Zahnspange getragen hätte, wäre sie ein sehr hübsches Mädchen geworden«, stellte meine Mutter fest. »Aber diese Zähne!«
»Was soll denn mit ihren Zähnen nicht stimmen?«
»Sie hat einen Überbiss.« Mom schob die Zähne vor, um es meinem Vater zu demonstrieren. »So sieht sie aus.«
»Ist ja gar nicht wahr.« Möglicherweise hatte Nicki einen leichten Überbiss, der mir aber nie besonders aufgefallen war. So, wie meine Mutter es demonstriert hatte, wirkte es jedenfalls monströs.
»Du brauchtest Gott sei Dank nie eine Zahnspange. Obwohl deine unteren Zähne eigentlich ein bisschen unregelmäßig sind. Man bemerkt es zwar kaum, aber manchmal denke ich, wir hätten das in Angriff …«
»Ryan braucht keine Zahnspange«, fiel Dad ihr ins Wort.
»Nein, brauchen tut er sie nicht, aber es wäre eine Verschönerung.«
»Ich brauche keine Verschönerung, vielen Dank«, sagte ich.
Dann widmeten wir uns alle wieder dem Kauen.
»Du bist heute sehr still«, meinte meine Mutter nach einer Weile.
Kurz bevor Dr. Briggs in Urlaub gegangen war, hatte unsere ganze Familie einen Termin bei ihr gehabt. Dabei hatte meine Mutter sich darüber beklagt, dass ich meinen Eltern nie erzählte, was in mir vorging. Deshalb sagte ich jetzt: »Ich hab mir was überlegt. Ich würde gern an einem Fallschirmspringerkurs teilnehmen.«
Beide hörten abrupt auf zu kauen, und ihre Hände, in denen sie die Gabel hielten, erstarrten mitten in der Bewegung. Vielleicht hörten sie auch auf zu atmen, aber da war ich mir nicht ganz sicher.
»Ich weiß, dass das teuer ist. Aber ich habe heute im Internet recherchiert. Ein Tageskurs kostet nur zweihundert Dollar. Wenn man eine Gruppe zusammenbekommt, noch weniger.« Nicht dass ich gewusst hätte, wen ich da hätte mitnehmen sollen. »Vielleicht könnte ich das an meinem Geburtstag machen. Die Kurse werden das ganze Jahr über angeboten.«
»Nein«, sagte mein Vater.
»Hast du den Verstand verloren?« Die Gabel meiner Mutter fiel klappernd auf den Tisch. »Glaubst du allen Ernstes, wir würden dich aus einem Flugzeug springen lassen?«
»Das ist absolut nicht drin«, sagte Dad, dessen Gesicht ganz grau und starr geworden war.
»Gibt es dafür denn kein Mindestalter?«, fragte Mom.
Das hatte ich vergessen nachzuprüfen. Aber jetzt, da sie es erwähnte, hielt ich es für mehr als wahrscheinlich.
»Das würde ich nie und nimmer erlauben. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es Eltern gibt, die ihr Kind aus einem Flugzeug springen lassen. Das ist doch verrückt.« Beim letzten Wort wurde Moms Gesicht knallrot, als sei ihr gerade eingefallen, dass ich ja mal in einer psychiatrischen Klinik war.
»Wie bist du denn auf diese Idee gekommen?«, fragte Dad, dessen Gesicht immer noch wie versteinert war.
»Ich habe …« Ich war drauf und dran, den Steinbruch zu erwähnen, aber so, wie sie sich gerade benahmen, würden sie mir dann sicher verbieten, je
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