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Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer R. Hubbard
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nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte. »Was haben wir bloß verbrochen, um uns so ein beschissenes erstes Mal einzuhandeln?«
    Bei Nicki konnte ich das nicht beurteilen. Was ich falsch gemacht hatte, wusste ich jedoch ziemlich genau.
    Als wir uns Pendleton näherten, fingen meine Nerven derart an zu flattern, dass ich am liebsten aus dem Truck gesprungen wäre. Ich rief mir in Erinnerung, dass Val mich ja schon im denkbar schlechtesten Zustand erlebt hatte. Diesmal würde ich nicht stumm bleiben, würde mich nicht unterm Bett verstecken oder wie ein Häufchen Elend auf dem Fußboden liegen. Was immer jetzt geschehen mochte – im Vergleich zu unserer letzten Begegnung würde meine Ausgangsposition um einige Grade besser sein.
    Sie war meine Freundin, ganz gleich, was sich sonst noch ereignete oder nicht ereignete. Sie war nicht Amy Trillis. Trotzdem zitterten meine Hände so, dass ich sie gegen die Schenkel presste, damit Nicki nichts bemerkte.
    Obwohl ich Val unbedingt sehen wollte, war ich innerlich noch nicht so weit, als wir vor ihrem Haus vorfuhren. Ich hatte das Gefühl, ich brauchte mehr Zeit – aber Zeit wofür? Würde ich je so weit sein?
    »Wow«, sagte Nicki, als der Truck keuchend haltmachte. »Das Haus ist ja noch größer als euers.«
    Das stimmte. Vor allem aber fiel mir auf, dass die Ishiharas ihre Sträucher spiralförmig beschnitten hatten. Wenn unser Haus von Hecken umgeben gewesen wäre, hätte meine Mutter sie zweifellos genauso zurechtgestutzt.
    Vals Mutter, der ich mehrmals in der Klinik begegnet war, öffnete die Haustür. »Kommt rein«, sagte sie und strahlte mich an. »Val übt noch, sie ist aber gleich fertig. Wie geht es dir, Ryan?«
    »Gut«, antwortete ich, wobei mir durch den Kopf schoss, dass diese Frage immer viel hintersinniger war, wenn die Leute wussten, dass man mal in einer psychiatrischen Klinik gewesen war. Aber was ich an Vals Mutter am meisten mochte, war, dass sie nie darauf zu warten schien, dass ich vor ihren Augen zusammenbrach. Sie schien nie den Atem anzuhalten, wie es bei Jakes Mom manchmal der Fall war. »Das ist meine Freundin Nicki. Nicki, das ist Dr. Ishihara.«
    »Schön, dich kennenzulernen.« Dr. Ishihara schüttelte Nicki die Hand, als warte sie schon ihr ganzes Leben darauf, ihr zu begegnen. Ja, Vals Mom war praktisch der netteste Mensch, den ich kannte. Ein weiteres Beispiel dafür, dass die Behauptung, es sei die Schuld der Eltern, wenn ihre Kinder durchdrehten, nicht immer zutraf. Nicht dass sie perfekt gewesen wäre. Aus Vals Erzählungen bei den Gruppensitzungen wusste ich, wie sehr sie Val zusetzte, damit diese in allem gut war – nicht nur gut, sondern überragend. Ob das nun absichtlich geschah oder nicht, jedenfalls übte sie gewaltigen Druck auf Val aus.
    Dr. Ishihara bot uns Limonade an und stellte uns allerlei Fragen über die Schule. Nicki streckte die Beine unter dem Tisch aus und betrachtete die abstrakten Bilder an den Wänden, die alle von Val stammten: Auf einem Bild waren scharfkantige Kuben zu sehen, auf einem anderen grüne Wirbel – die mich sofort an das Bild in meinem Zimmer erinnerten. Die ganze Zeit hörte ich, wie Val oben Geige spielte, etwas Düsteres und Kompliziertes. Es klang, als würden die Saiten Schmerz empfinden, als wären sie Nerven, die zu Vals Körper gehörten. Es fiel mir unendlich schwer, am Küchentisch sitzen zu bleiben und Small Talk mit ihrer Mutter zu führen. Viel lieber wäre ich nach oben gerannt und Val um den Hals gefallen.
    Nach einer Weile hörte die Musik auf. Kurz danach kam Val die Treppe heruntergesprungen.
    »Warum hast du mir denn nicht gesagt, dass Ryan schon da ist?«, rief sie, während sie auf mich zulief. Val! Endlich!

12
    Nachdem Val Sandwiches gemacht hatte, saßen wir zusammen am Küchentisch und unterhielten uns über die imaginäre Cousine, die Nicki angeblich besuchen wollte – die Ausrede, die für unsere Fahrt hierher hatte herhalten müssen. Wir diskutierten auch darüber, dass Nicki eigentlich zu jung aussah, um einen Führerschein zu haben. (»Das bekomm ich ständig zu hören«, meinte Nicki in gelangweiltem Ton, der sie plötzlich wie eine Dreißigjährige klingen ließ.) Vals Haarschnitt kam ebenfalls zur Sprache. Sie drehte sich um, damit wir ihren Hinterkopf betrachten konnten, wo das dreieckige Stück ausrasiert worden war.
    »Ist ja cool«, sagte Nicki, während sie in einen Kartoffelchip biss. »Ich wünschte, mein Haar wäre glatt. Dann könnt ich es mir auch

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