Atme nicht
vor ihm aus der Klinik entlassen wurdest. Vor allem aber, weil du zu denjenigen gehörst, die sich im Patterson Hospital wirklich geändert haben. Weil du es wirklich geschafft hast.«
Sie starrte mir über die Schulter, als liefe auf der Wand hinter mir ein Film über mein früheres Ich ab. »Als du dort ankamst, hast du dauernd davon gesprochen, dass du sterben willst. Aber dann hast du eine komplette Kehrtwendung hingekriegt.«
Das war mir anders in Erinnerung. Trotzdem ließ ich sie weiterreden.
»Jake macht sich ständig Gedanken darüber, was andere Leute von ihm halten. Du bist da wesentlich selbstbewusster.«
Ich hatte keine Ahnung, ob das tatsächlich für mich zutraf, aber wenn sie es so sah, wollte ich ihr nicht widersprechen.
»Ich würde dir gern einige der Mails zeigen, die er mir geschickt hat.« Val stellte die leeren Gläser in die Spüle und streckte die Hand nach mir aus. Da ich nicht wusste, ob ich sie ergreifen sollte oder ob das nur als auffordernde Geste gemeint war, folgte ich ihr, ohne sie anzufassen.
Vals Zimmer. Zigmal hatte ich versucht, es mir vorzustellen. Es passte perfekt zu ihr. Blassgrüne Wände – kein Krankenhausgrün wie in der Klinik, sondern die Farbe frischer Farne. Holzdielen, vor dem Fenster ein Schreibtisch aus Holz. An den Wänden Poster abstrakter Gemälde, kühne, scharfkantige Formen, verschlungene dicke schwarze Linien. In einer Ecke des Raums standen ihre Instrumentenkästen sowie ein Notenständer.
Dies war also der Ort, wo Val mir Mails schrieb. Und musizierte. Und schlief. Und sich auszog.
Sie setzte sich an den Computer. Ich stellte mich hinter sie, wobei ich versuchte, ihr nicht in den Nacken zu atmen, während sie eine alte Mail von Jake abrief.
»Val, ich halt’s nicht mehr aus. An dieser Schule bin ich ein Loser & werde es immer sein. Bei dir läuft wegen deiner Musik alles gut. Bei Ryan scheint auch alles gut zu laufen, aber bei mir nicht. Ich weiß nicht, warum ich immer der Loser sein muss, derjenige, der nie was auf die Reihe kriegt, & ich hab’s satt.«
In dem Moment tat es mir leid, dass ich Jake nicht mehr über die Glasscheibe erzählt hatte, hinter der ich lebte, und darüber, dass ich mich in der Schule in einer menschenfreien Zone bewegte. Vielleicht wäre er sich weniger allein vorgekommen, wenn ich ihm die volle Wahrheit gesagt hätte.
»Meine Eltern sind ständig dabei, an mir rumzunörgeln«, ging Jakes Mail weiter. »Zu Partys soll ich gehen und irgendwelchen Sportteams beitreten. Kriegen die denn nicht mit, dass mich niemand einlädt? Dass mich niemand haben will?«
»Scheiße«, murmelte ich. Val scrollte weiter, damit ich den Rest lesen konnte.
»An manchen Tagen komme ich noch nicht mal aus dem Bett. Ich hasse diesen Ort. Ich hasse mein Leben. Das ist schlimmer als in der Klinik, denn da hatte ich wenigstens euch.«
»Hast du ihm darauf geantwortet?«, fragte ich Val.
»Selbstverständlich. Ich hab mir schließlich große Sorgen gemacht. Aber Jake nahm alles zurück, entschuldigte sich für sein Gewinsel und sagte, er habe nur schlechte Laune gehabt.«
»Vielleicht war das ja der Fall.«
»Glaubst du das?«
»Nein.«
»Eben. Ich auch nicht.«
Wir starrten auf den Bildschirm, wo Jakes Elend dokumentiert war. Ich hörte, wie wir beide atmeten. Als ich schluckte, schien das Geräusch wie Donner von den Wänden widerzuhallen.
»Hat er dir irgendwas von dem erzählt?«, fragte Val.
»Nein.«
Sie seufzte. Dann klickte sie etwas an und aus den Lautsprechern erklang langsame, ein wenig düstere Klaviermusik. Es erinnerte mich an die Musik, die sie bei ihrem Besuch in der Klinik für uns gespielt hatte – erinnerte mich an jenen Abend, an dem ihre Finger sich um mein Handgelenk gelegt hatten.
Ich blickte auf ihr Handgelenk und stellte mir vor, es genauso zu umfassen. Das war die Geste, die mir immer einfiel, wenn ich an Val dachte, weil ich da das Gefühl gehabt hatte, dass sie mich auf die gleiche Weise wollte wie ich sie. Ich machte jedoch keine Bewegung, und sie schob ihren Stuhl zurück, um aufzustehen und sich mir zuzudrehen. Ich hätte einen Schritt zurücktreten müssen, um sie vorbeizulassen, tat es aber nicht. Stattdessen starrte ich sie wortlos an und wurde immer kribbeliger, weil ich mich danach sehnte, sie anzufassen.
Und dann tat ich es. Ich fasste sie beim Handgelenk.
Als ich sie berührte, erstarrte sie. Ich hatte keine Ahnung, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.
Ich konnte mich
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