Atme nicht
überhaupt nicht mehr erinnern, wann ich jemandem das letzte Mal körperlich so nah gewesen war. Jemanden berührt hatte, insbesondere ein Mädchen. Es war fast, als hätte ich vergessen, dass auch andere Menschen eine warme Haut hatten und Blut in ihren Adern pulsierte. Als ich Nicki die Garagengeschichte erzählt hatte, hatte sie mich angefasst, mir die Hand auf den Rücken gelegt, aber das zählte nicht. Hier ging es um Val .
Ich wartete auf irgendeine Reaktion von ihr. Sie wich nicht vor mir zurück. Sie lehnte sich nicht an mich.
Ich strich ihr mit dem Daumen über das Handgelenk, ließ ihn über ihre samtweiche Haut gleiten, die an dieser Stelle so dünn war, dass man die bläulichen Blutgefäße sehen konnte. Sie war so still, dass ich mich fragte, ob sie den Atem anhielt; ich tat es jedenfalls.
Ich riss meinen Blick von ihrer Hand los und sah sie an. Sie erwiderte meinen Blick, fast ohne mit der Wimper zu zucken. Sie hatte braune Augen, kühl und von unendlicher Tiefe. Ihre Unterlippe zitterte, und ich dachte schon, sie wolle etwas sagen, aber ich hatte mich geirrt. Ich wollte noch dichter an sie herantreten – und wartete gleichzeitig auf ein Zeichen von ihr. Zumindest wich sie nicht vor mir zurück und überließ mir weiterhin ihren Arm.
Ich beugte den Kopf vor, meine Lippen streiften fast die ihren.
Aber nur fast.
Sie wandte den Kopf ab, nur ein kleines Stück, aber das reichte. Ich ließ ihr Handgelenk los und trat zurück.
»Ryan …«
»Vergiss es. Und entschuldige bitte«, erwiderte ich. In dem Moment wurde mir bewusst, wie unordentlich ich aussah. Mein Hemd hing halb aus der Hose, mein Haar war völlig verstrubbelt. Bevor wir an der Haustür der Ishiharas geklingelt hatten, hatte ich es mir auf Nickis Anordnung kämmen müssen, doch während des Lunchs hatte ich es mir wieder zerzaust, sodass es jetzt stachlig zu Berge stand.
»Ryan.« Val streckte die Hand nach mir aus. »Sei doch nicht … Bitte lass mich dir alles erklären.«
»Das brauchst du nicht.« Ich trat noch weiter zurück, bis ich gegen ihren metallenen Papierkorb stieß, der klappernd umfiel. Ich konnte wirklich darauf verzichten, mir ihre Erklärungen anzuhören – mir anzuhören, wie sie mich mit deutlichen, klaren, vernünftigen, unerträglich quälenden Worten abwies. Ich musste schnellstens von hier weg. Zumindest machte sie sich nicht über mich lustig, aber in gewisser Weise war das hier schlimmer als die Szene mit Amy Trillis.
»Ich mag dich wirklich«, sagte sie. Ich versuchte krampfhaft, nicht hinzuhören, weil ich erwartete, dass sie hinzusetzen würde aber nur wie einen guten Freund, doch das tat sie nicht.
Stattdessen fuhr sie fort: »Ich wünschte, wir würden nicht so weit voneinander entfernt wohnen.«
»Was?«
Sie wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger und zog daran. Dabei sah sie mich unverwandt an. Ich konnte nicht weiter zurückweichen, da ich inzwischen an ihrem Bett angelangt war.
»Wenn wir dicht beieinander wohnen würden, wäre vielleicht alles anders. Ich kenne mich. Ich brauche jemanden, der in meiner Nähe ist. Das verstehst du doch, oder?«
Natürlich verstand ich das. Ich wollte ja auch die ganze Zeit in ihrer Nähe sein. Bloß dass ich mich mit einer Fernbeziehung zufriedengeben würde, wenn ich nicht mehr bekommen konnte. »Wir könnten es doch versuchen«, stieß ich mit heiserer Stimme hervor.
Sie presste die Lippen zusammen. »Ohne mich.« Sie ließ die Haarsträhne los. »Ich werde mich auf keine halben Sachen mehr einlassen. Erinnerst du dich noch, wie Dr. Coleman gesagt hat, dass man bei seinen Bedürfnissen nicht zurückstecken soll?«
Ich setzte mich aufs Bett und stöhnte. »Verschon mich mit diesem Therapiejargon, okay?«
Sie lachte und setzte sich neben mich. »Okay.«
Ich wandte den Kopf von ihr ab und sagte leise, aber so, dass sie es hören konnte: »Ich verstehe, was du meinst. Aber ich möchte es trotzdem versuchen.«
Ich glaube, eine ganze Minute verging, bis sie genauso leise erwiderte: »Das … kann ich nicht. Vielleicht mag ich dich dafür nicht genug. Oder vielleicht liegt es auch daran, dass wir einfach zu weit voneinander entfernt wohnen. Keine Ahnung, ich …«
Vielleicht mag ich dich dafür nicht genug . Damals hatten wir das Patterson-Aufrichtigkeit genannt: die reine Wahrheit, ohne Förmlichkeiten und Höflichkeitsfloskeln. In der Klinik hatten wir alle so miteinander geredet, aber im normalen Leben waren die Menschen gewöhnlich nicht so
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