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Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer R. Hubbard
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alles und nichts. Sie erzählte mir ein paar Geschichten über Kent, unter anderem die, dass er mal versucht hatte, einen Waschbären zu fangen, um ihn als Haustier zu halten, und ich glaube, sie erwähnte auch, dass er Höhenangst hatte. Ich achtete nicht groß auf das, was sie sagte. Ich hörte nur den Klang ihrer Stimme, der etwas Beschwichtigendes hatte. Ihr Geplapper war eine Art Hintergrundgeräusch, das die entsetzliche Stille ausfüllte, in der nur Vals Stimme zu vernehmen war, die sagte: »Vielleicht mag ich dich dafür nicht genug.« Die Patterson-Aufrichtigkeit. Die nackte Wahrheit, ganz gleich, ob ich sie verkraften konnte oder nicht.
    Nicki fuhr auf den Parkplatz einer Raststätte. Obwohl es noch nicht ganz dunkel war, waren wegen des regnerischen, trüben Wetters bereits überall die Lichter an. Auf dem halb leeren Parkplatz roch es nach Benzin, nassem Asphalt und Frittierfett. Nicki parkte bei den Picknicktischen, wo niemand picknickte. Ein Mann führte seinen Hund aus und rauchte dabei eine Zigarette – eine dunkle Gestalt, an deren Mund ein orangefarbener Stern leuchtete.
    Wir gingen in die Raststätte, um auf die Toilette zu gehen und am Automaten Limonade zu kaufen. Ich starrte auf die Landkarte, die an der Wand hing. Im Neonlicht brannten mir die Augen. Die grelle Beleuchtung hob jeden kleinen Makel in Nickis Gesicht hervor: die rötlichen Pickel, die Sommersprossen, die grauen Ringe unter ihren Augen. Trotzdem fand ich sie schön, selbst ihre oberen, wie bei einem Hasen vorstehenden Vorderzähne gefielen mir. Sie hatte tatsächlich einen Überbiss, obwohl meine Mutter das Ganze übertrieben hatte. Und bei Nicki sah es irgendwie gut aus.
    Nicki kratzte sich an der Wange und stellte sich neben mich, um die Landkarte zu studieren. Ich spielte mit dem Gedanken, ihr vorzuschlagen, nicht nach Haus zurückzukehren, sondern den Highway immer weiter entlangzufahren, bis wir das Meer erreichten.
    Und dann? Was dann?
    Über solche Fantasien hatte ich schon zigmal mit Dr. Briggs gesprochen: Wie es wäre, aus dem undichten Glashaus und von der Schule wegzuziehen, wo jeder wusste, was in der Garage geschehen war. Weg von der braunen Papiertüte in meinem Wandschrank. Weg von den Träumen, die sich um Val drehten und mir immer mehr zu schaffen machten. Dr. Briggs hatte mich darauf hingewiesen, dass Flucht nicht nur hieß, einen Ort zu verlassen, sondern auch, an einem anderen anzukommen, und dass mir mein Schmerz überallhin folgen würde. »Wäre es da nicht besser, zu bleiben und sich mit allem auseinanderzusetzen?«, hatte sie gefragt.
    Nicki trank einen Schluck Limonade und leckte sich über die Lippen. »Wollen wir?«, sagte sie.
    Wir kehrten zum Truck zurück, aber ich hatte keine Lust einzusteigen. »Lass uns noch kurz hierbleiben«, schlug ich vor und setzte mich auf einen der Picknicktische. Am liebsten hätte ich mich jetzt unter den Wasserfall gestellt, doch im Moment war da nur der Regen.
    Sie setzte sich neben mich auf das nasse Holz. Die Limonade in den Dosen zischte und prickelte. Autos kamen auf den Parkplatz gefahren oder verließen ihn. Der Mann mit dem Hund war verschwunden. Es war so still, dass ich Nicki schlucken hören konnte.
    »Bist du okay?«, fragte sie schließlich.
    Diese Frage hatten wir einander immer in der Klinik gestellt, bloß dass wir sie ernst meinten und nicht als Floskel, die automatisch ein Ja nach sich zog. Da sie möglicherweise wirklich wissen wollte, wie es mir ging, riskierte ich es, ihr die Wahrheit zu sagen. »Nein.«
    Sie räusperte sich. »Möchtest du darüber reden?«
    »Nein.«
    Sie legte ihre Hand auf meine. Von der Dose waren ihre Finger feucht und kühl, wurden jedoch schnell wieder warm. Dann nahm sie die Hand weg, um noch einen Schluck zu trinken.
    Ich legte ihr die Hand aufs Knie. Sie hatte ein Loch in den Jeans, sodass ich statt Stoff die warme glatte Haut ihres nackten Knies zu spüren bekam.
    Sie zog scharf den Atem ein. Ihre Augen huschten über mein Gesicht, ihr Mund öffnete sich ein wenig. Obwohl sie nicht erstarrte wie Val, hatte ich keine Ahnung, was in ihr vorging. Ihren Gesichtsausdruck hätte ich jedenfalls als erstaunt bezeichnet. Dann hob sie die Hand, um mit den Fingerspitzen meine Wange zu berühren.
    Mir wurde bewusst, dass ich erwartet hatte, dass sie zurückweichen oder sich abwenden würde – wie Val es getan hatte, wie Amy Trillis es getan hatte. Doch ihre Hand blieb, wo sie war, und gab ihre Wärme an mich weiter. Durch ihre

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