Atme nicht
Mutter wieder auf dem Laufband zugange war. Ich packte mir das Kissen über den Kopf, konnte so aber nicht schlafen und hatte das Gefühl zu ersticken.
Um sechs wachte ich auf. Obwohl meine Augen brannten, als hätten sie über Nacht in Tabascosauce gelegen, war ich überhaupt nicht müde. Alles, was ich wollte, war, zum Wasserfall zu gehen und das Wasser auf mich niederprasseln zu lassen, damit ich wieder einen klaren Kopf bekam. Ich schlich mich aus dem Haus. Es war so früh, dass selbst meine Mutter noch nicht am Computer saß.
Draußen war es überall nass, obwohl es aufgehört hatte zu regnen. Der Himmel war mit tief hängenden grauen Wolken bedeckt und alles machte einen aufgeweichten Eindruck. Während ich den Pfad entlangging, quatschte der Boden unter meinen Füßen. Von den Bäumen tropfte es, das Gras und die Farne am Weg hinterließen feuchte Spuren auf meiner Haut. Als ich am Wasserfall ankam, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, ein Handtuch mitzunehmen. Trotzdem zog ich mir das T-Shirt aus. In dem Moment richtete sich jemand, der am Ufer gelegen hatte, auf. Ich fuhr erschrocken zusammen.
»Hey«, sagte Nicki.
»Was machst du denn so früh hier?«
»Dasselbe könnte ich dich auch fragen.« Sie warf eine Eichel nach mir.
»Konnte nicht mehr schlafen.«
»Ich auch nicht.«
Gott, sie wollte doch nicht etwa über das reden, was gestern Abend passiert war? Sie biss sich auf die Lippe und senkte den Blick, während ich mir die Schuhe auszog.
»Das Wasser ist zu kalt«, sagte sie, als ich zum Rand des Teichs ging.
»Nein, ist es nicht.« Ich schwitzte und zitterte gleichzeitig am ganzen Körper. Ich sprang in den Teich und arbeitete mich, immer wieder auf den glatten Steinen ausrutschend, zum Wasserfall vor. Nicki schrie mir etwas hinterher, das ich aber nicht verstand, weil das Wasser zu laut rauschte. Dann trat ich unter den Wasserfall.
Ich hatte nicht bedacht, wie heftig es in den letzten Tagen geregnet hatte.
Ich hatte nicht genau hingesehen, hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, warum das Wasser heute stärker und lauter brauste als beim letzten Mal.
Mit voller Wucht klatschte es mir auf den Kopf, toste in meinen Ohren, schlug auf meine Schultern ein. Und dann riss es mir die Beine weg. Ich versuchte, mich festzuhalten – an den Felsen, am Wasser. Die Haare hingen mir ins Gesicht, ich ging unter. Verzweifelt umhertastend, schaffte ich es irgendwie, mich mit Händen und Knien abzustützen und keuchend aufzutauchen.
Nicki kam angewatet und packte mich beim Haar. Sobald ich dazu in der Lage war, machte ich ihre Finger los. »Wollte dir nur helfen, den Kopf über Wasser zu halten«, schrie sie, um das Tosen zu übertönen. »Alles in Ordnung?«
Ich nickte und schleppte mich zum Ufer, wo ich mich mit dem Gesicht nach unten zu Boden fallen ließ. Sie setzte sich neben mich. Als das Dröhnen in meinen Ohren aufhörte und ich wieder klar denken konnte, sagte ich: »Ziemlich heftig heute, das Wasser.«
Sie lachte. »Kann man wohl sagen.« Dann legte sie mir die Hand auf den Rücken. »Bist du wirklich okay?«
»Ja.«
»Ich meine, nicht nur körperlich. Ich meine … es war ein bisschen verrückt, heute da runterzugehen.«
»Tja.« Ich wälzte mich auf den Rücken. »Ich bin nun mal ein bisschen verrückt.«
»Finde ich auch«, erwiderte sie. Verlegen spielte sie an einer Haarsträhne herum. »Ich bin froh, dass du gekommen bist, weil ich dich um etwas bitten wollte.«
»Worum?«
»Könntest du morgen mitkommen? Ich will zu einem anderen Medium.«
»Ist das dein Ernst?«
»Klar. Ich hab dir doch gesagt, dass ich nach einem neuen Medium suchen würde.«
»Nicki, ich weiß wirklich nicht, was du von denen erwartest.«
Sie zwirbelte ihre Haarsträhne und zerrte daran herum. Als ich einen rotblauen Fleck an ihrem Hals entdeckte, zuckte ich innerlich zusammen, weil ich sofort wusste, was das war. Rasch wandte ich den Blick von der Stelle ab.
»Ich muss es versuchen«, sagte sie.
»Das ist reine Geldverschwendung«, entgegnete ich. »Wo kriegst du das Geld überhaupt her?«
Sie schwieg. Vielleicht war ich da einen Schritt zu weit gegangen. Wir hatten nie groß darüber gesprochen, dass wir über unterschiedlich viel Taschengeld verfügten und in grundverschiedenen Häusern wohnten. Gestern hatte Nicki es akzeptiert, dass ich das Benzin bezahlte, weil sie gefahren war und es sich schließlich um meine Freundin handelte, die wir besuchten. Das war nur fair. Trotzdem wusste ich, dass
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