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Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer R. Hubbard
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dem Diebstahl hatte ich eine Art Grenze überschritten. Ich besaß den Pullover und Amy wusste nichts davon. Das war nichts anderes als das jämmerliche Verhalten eines Stalkers.
    Ich schämte mich für diese Sache mehr als für fast alles, was ich je angestellt hatte. Ich war ein erbärmlicher Stalker.
    Das waren also die Geheimnisse, die ich hatte. Im Gegensatz zu den großen Geheimnissen, bei denen einen jeder bedauert und Verständnis für einen hat – zum Beispiel wenn man ein Elternteil verliert oder ernsthaft krank wird –, waren meine Geheimnisse schändlich und schmuddelig und von einer Abnormität, die bei anderen nur Abscheu hervorrufen konnte.
    Ich wohnte in diesem todschicken Haus, das meine Eltern für absolut großartig hielten, und war in Wirklichkeit ein Typ, der nicht richtig tickte und Mädchenkleidung klaute. Der es zwar nur einmal getan hatte, aber trotzdem.
    »Was hast du denn mit dem Pullover gemacht?«, fragte Nicki.
    »Ich hab ihn immer noch. Ich wusste nicht, was ich damit machen sollte.«
    Sie blieb reglos liegen und sagte kein Wort. Ich wünschte, sie würde mich wegstoßen, damit ich es endlich hinter mir hatte. Mir fiel wieder ein, wie Amy mich ausgelacht hatte, wie Val vor mir zurückgewichen war.
    Nicki strich mir zerstreut mit den Fingern übers Knie. Ich war so erschöpft, dass ich mich am liebsten gegen den Baumstamm gelehnt hätte, doch gleichzeitig wollte ich, dass ihre Hand auf meinem Knie blieb. Solange sie bereit war, mich anzufassen – was bestimmt nicht mehr lange der Fall war –, würde ich mich nicht vom Fleck rühren.
    »Ich weiß, das ist krank«, sagte ich.
    »Was ist krank?«
    »Dass ich ihren Pullover gestohlen habe.«
    »Also, ich würde es eher traurig nennen. Weil du dir dringend etwas gewünscht haben musst, aber dann nur einen Pullover genommen hast.« Ihre Finger trommelten auf mein Knie. »Du sagst immer, dass du wie erstarrt warst, aber das glaube ich nicht, denn du warst ja noch imstande, dir dringend etwas zu wünschen.«
    Sie schien die Sache mit dem Pullover nicht für so grässlich zu halten wie ich, aber ich war mir nicht sicher, wer von uns beiden da richtiglag. Denn immer wenn ich diesen Pullover betrachtete, sah ich mein zukünftiges Ich vor mir: einen durchgeknallten Stalker, der sich in dunklen Gassen rumdrückte und durch seine Glasscheibe hindurch lüstern nach Frauen schielte. Einen Typ, dessen Blick jeder auf der Straße ausweicht. Einen Typ, der mit sich selber redet, weil niemand sonst mit ihm reden will. Einen Typ, der die Kleidung anderer Menschen hortet, weil das die einzige Möglichkeit für ihn ist, anderen Menschen nahezukommen.
    »Ich wollte den Pullover loswerden, aber …«, sagte ich und verstummte, weil ich wusste, dass das, was ich sagen wollte, verrückt klang. Ich hatte den Pullover nicht wegwerfen wollen, weil ich dachte, meine Fingerabdrücke seien darauf oder meine Haut hätte DNA-Spuren hinterlassen. Als ob jemand, der ihn im Müll fand, sofort wüsste, dass er gestohlen war. Als ob man Geld für gerichtsmedizinische Tests ausgeben würde, die wahrscheinlich sowieso nichts bringen würden. Offenbar hatte ich im Fernsehen zu viele Krimis gesehen. Aber Schuldgefühle haben nun mal nicht viel mit Logik zu tun.
    Aus dem gleichen Grund hatte ich ihn nicht anonym an Amy zurückschicken wollen – weil ich glaubte, dass meine Schuld überall an ihm klebte. Ich hatte sogar Angst davor, ihn im Fundbüro der Schule abzugeben oder ihn irgendwo in der Schule hinzulegen, damit ihn jemand fand.
    Deshalb versteckte ich den Pullover in meinem Wandschrank und wünschte, er würde zerfallen, sich in Luft auflösen. Ich hoffte, dass ich die braune Papiertüte eines Tages aufmachen und keine einzige pinkfarbene Faser, keine einzige Fussel mehr finden würde.
    »Du könntest ihn verbrennen«, schlug Nicki vor.
    Aber wo? Unser weißer Marmorkamin wurde nie benutzt. Wenn meine Mutter dort einen Rußfleck entdeckte oder feststellte, dass es nach Rauch roch, würde sie der Sache wie ein Spürhund nachgehen. Draußen konnte ich es auch nicht machen, weil da die Gefahr bestand, dass ich versehentlich den Wald in Brand steckte. Ich malte mir aus, wie ich versuchte, meinen Eltern und der Feuerwehr alles zu erklären. Dann könnte ich mir überlegen, was mir lieber war: dass sie mich für einen Stalker oder einen Brandstifter hielten. Eine tolle Alternative.
    Oder würden sie mich selbst da verdächtigen, einen Selbstmordversuch unternommen zu

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