Atme nicht
ich einen Rückzieher und kam auf die Glasscheibe zurück.
»Wie meinst du das mit der Glasscheibe eigentlich?«, fragte Nicki, die sich auf die Seite gelegt und den Kopf in die Hand gestützt hatte, um mich besser ansehen zu können. Ihr Shirt und ihr Rock hatten Grasflecken.
»Es ist so, dass ich alle sehen und hören kann, aber nicht wirklich bei ihnen bin. Niemanden anfassen kann. Und dann ist da plötzlich diese Starre, die sich anfühlt, als sei man irgendwie scheintot. Jedenfalls habe ich das immer so empfunden.«
Sie nickte, als ob das irgendeinen Sinn ergebe, und ich redete weiter. Bisher hatte sie alles, was ich gesagt hatte, mit einem verständnisvollen Ausdruck in den Augen aufgenommen und mir zu verstehen gegeben, dass sie noch mehr hören wollte, auch das letzte Geheimnis, weil nichts, was sie bislang gehört hatte, schlimm genug war.
Ich erzählte ihr von Frank und wie ich ihm hatte zusehen müssen. Wie ich Geld von ihm genommen hatte, ohne etwas zu verraten, und dass die Sache nur durch einen blöden Zufall herausgekommen war und nicht etwa, weil ich mich richtig verhalten hätte.
Irgendwann fing sie an, meinen Arm zu streicheln. Ich war so überrascht, dass sie mich nach der Story mit Frank noch anfasste, dass ich überlegte, ob ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt hatte.
»Hast du nicht verstanden, was ich gesagt habe? Ich habe das Geld genommen.«
»Na und? Wie alt warst du da? Sechs? Und er war erwachsen. Er hat seine Hose runtergelassen, nicht du. Was ist eigentlich mit ihm passiert? Wurde er vor Gericht gestellt?«
»Das habe ich erst später herausgefunden. Anscheinend hat mein Dad, der natürlich stinkwütend war, ihn angerufen und ihm gedroht oder so. Als Nächstes erfuhren wir dann, dass er das Land verlassen hatte. Vor ungefähr fünf Jahren ist er gestorben, an irgendeinem Leberleiden. Wir haben ihn nie wiedergesehen.«
Der Himmel über uns hatte sich inzwischen verdunkelt, während der Horizont im Licht der untergehenden Sonne leuchtete. Nickis Hand lag auf meinem Knie. Vom vielen Sprechen war ich ganz heiser, meine Kehle fühlte sich an, als hätte ich versucht, eine Käsereibe zu verschlucken. Noch nie im Leben hatte ich so viel auf einmal gesagt – selbst zu Val und Jake nicht. Nicki trommelte mir mit den Fingern aufs Knie, und jeder Kontakt löste unsichtbare Funken aus, die wie elektrische Impulse über mein Bein und meine ganze Haut huschten. Die Äste über uns hoben sich schwarz gegen den Himmel ab. Ich legte ihr einen Finger auf den Handrücken, was sie geschehen ließ, ohne zusammenzuzucken.
»Wenn ich bloß wüsste, was mein Vater wollte«, sagte sie mit ruhiger Stimme. Gewöhnlich klang ihre Stimme aufgeregt, wenn sie ihn erwähnte.
Ich legte meine ganze Hand auf ihre. Mehr wollte ich gar nicht von ihr. Ich wollte nur die Wärme unter meiner Hand spüren und dabei wissen, dass Nicki real und lebendig war und nicht vor mir zurückwich.
Es hatte nie den magischen Moment gegeben, wo ich gewusst hatte, warum ich mich nach dem Tod sehnte, ebenso wenig wie es den magischen Moment gegeben hatte, wo ich beschloss weiterzuleben. Meine Mutter hatte, wie ich wusste, nach dem magischen Grund gesucht und neigte dazu, Onkel Frank die Schuld an allem zu geben. Sie wollte eine Erklärung. Und verdammt noch mal, die verdiente sie auch.
Auch Nicki suchte, was ihren Vater betraf, nach dem magischen Grund, aber das hier war alles, was ich ihr zu bieten hatte – dass ich ihr all das Schlechte, das in mir war, erzählte. Wir saßen unter dem Baum, während um uns herum die Grillen zirpten und sich Tau auf den Grashalmen bildete. Mein Knie unter ihrer Hand brannte wie Feuer.
»Tut mir leid«, flüsterte ich.
»Was denn?«
Vieles, unendlich vieles.
Ein Geheimnis hatte ich noch auf Lager: die Sache mit Amy Trillis und der Schulbibliothek.
Nicki leckte ihren Daumen an und rieb damit an einem grünen Fleck auf ihrem Rock herum. »Das Kostüm gehört meiner Mutter«, sagte sie. »Die bringt mich um.«
Ich reichte ihr die Wasserflasche, doch sie seufzte und sagte: »Vergiss es. Ich werd’s zu Hause mit Seife versuchen.«
Dunkelheit senkte sich herab. Die noch ausstehende Geschichte lag mir schwer im Magen. Ich hatte sie nie jemandem erzählt, weder Dr. Briggs noch sonst wem. Ich hatte noch nicht einmal mit dem Gedanken gespielt, es zu tun. Doch jetzt drängte auch dieses Geheimnis nach draußen. Irgendetwas in mir wollte herausfinden, ob Nicki imstande war, auch das zu
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