Atme nicht
ertragen, nachdem sie alles andere gehört hatte. Ich räusperte mich.
»Was ist?«, sagte Nicki.
Ich brachte kein Wort heraus. Sie setzte sich hoch und flüsterte mir ins Ohr: »Was ist denn?«
Ich war froh, dass uns Dunkelheit einhüllte.
Vor unserem Umzug ging ich auf die Highschool von West Seaton. In meinem ersten Jahr dort hatte ich in der fünften Stunde eine Freistunde. Wenn die Glasscheibe so dick wurde, dass ich die Nähe anderer Menschen nicht mehr ertragen konnte, zog ich mich in die Schulbibliothek zurück und setzte mich allein an einen Tisch.
Amy Trillis und ihre Freundinnen gingen ebenfalls in die Bibliothek, wo sie die bequemsten Stühle im Kreis aufstellten, herumkicherten, ihren Freunden eine SMS nach der nächsten schickten und Lipgloss herumreichten – zumindest schienen das ihre Beschäftigungen zu sein. Von meinem Platz aus konnte ich sie zwar sehen und hören, vermied es aber, direkt zu ihnen hinüberzublicken. Nachdem Amy mich vor einigen Monaten ausgelacht und beschuldigt hatte, dass ich ihr ständig hinterherstarrte, wollte ich nicht, dass sie auf mich aufmerksam wurde. Mittlerweile schien sie mich vergessen zu haben, und ich wollte, dass es so blieb.
Eines Tages standen sie und ihre Freundinnen von den Stühlen auf, um aus dem Fenster zu gaffen, weil ein Junge, über den sie gerade gesprochen hatten, draußen vorbeiging und eines der Mädchen wissen wollte, wie er aussah. Ihre Jacken, Büchertaschen, Notebooks, Bleistifte und den Lipgloss ließen sie über Stühle und Fußboden verteilt zurück. Von Amys Stuhl hing ein pinkfarbener Pullover herab. Die Mädchen hatten mir den Rücken zugekehrt.
Dieser Pullover schien Amys Körperbewegungen und ihren Duft in sich aufgenommen zu haben. Einen Moment lang durchströmte mich heißes Verlangen, das jedoch sofort in Starre überging. Die Glasscheibe war wieder da. Mir war alles egal.
Ohne nachzudenken, schlich ich mich mit meinem Rucksack in der Hand zu den Stühlen hinüber, stopfte den Pullover rasch in den Rucksack, machte den Reißverschluss zu und versteckte mich hinter dem Bücherregal nahe der Tür. Als die Mädchen zu ihren Stühlen zurückkehrten, fiel Amy das Verschwinden des Pullovers zunächst gar nicht auf. Erst nach einer Weile bemerkte sie es, stand auf, bückte sich und suchte den Fußboden ab. »Mein Pullover! Habt ihr meinen Pullover gesehen? Wo steckt er bloß? Nein, pink … Nein, er lag hier auf dem Stuhl …«
Dann machten sie sich daran, die ganze Umgebung abzusuchen. »Jemand muss ihn gestohlen haben! Das ist doch einfach nicht zu glauben! Ob jemand was gesehen hat?« Die Bibliothekarin kam herbei, um sich zu erkundigen, was los sei. Anschließend gingen sie durch die ganze Bibliothek und fragten die anderen Schüler, ob sie etwas gesehen hätten. Ich schlüpfte ungehindert zur Tür hinaus.
Der Hammer dabei ist, dass mich später nie jemand dazu befragt hat. Die Mädchen hatten meine Anwesenheit überhaupt nicht bemerkt. Amy und ihre Freundinnen hängten eine Liste mit den Namen von allen, die sich während des Diebstahls in der Bibliothek aufgehalten hatten, ans Schwarze Brett. Meiner war nicht darunter. Ich hatte mitten in der Bibliothek gesessen, jeder hätte sehen können, wie ich aufstand, doch niemand nahm mich zur Kenntnis oder achtete auf das, was ich machte. Es war noch schlimmer, als hinter der Glasscheibe zu sein. Ich war unsichtbar geworden.
Ich redete immer schneller, ohne eine einzige Pause, weil ich Nicki nicht die Möglichkeit geben wollte, etwas zu sagen. Denn wenn ich jetzt aufgehört und sie nichts gesagt oder das Falsche gesagt hätte – ich glaube, ich hätte es nicht ertragen.
Mag sein, dass ich unsichtbar war, der Pullover jedenfalls war es nicht. Er war vom pinkesten Pink, das ich je gesehen hatte, außerdem stank er förmlich nach Parfüm. Als ich damit nach Haus kam, hasste ich ihn bereits. Es war so offensichtlich, dass er nicht mir gehörte, dass jeder, der ihn sah, fragen würde, wo ich ihn herhatte. Deshalb packte ich ihn in die braune Einkaufstüte und verstaute ihn im obersten Regal meines Wandschranks, zuerst in unserm alten Haus, später dann im neuen. Als wir vorübergehend auszogen, weil das Haus abgedichtet werden musste, ließ ich ihn im Wandschrank und hoffte, dass er in der Zwischenzeit wie durch Zauberhand verschwinden würde. Doch als ich aus der Klinik entlassen wurde, erwartete er mich bereits. Ich konnte von dem, wofür er stand, einfach nicht loskommen.
Mit
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