Atme - wenn du kannst!
daran gewöhnen. Du bist ja schließlich mein Dad, nicht wahr? Und ich habe eigentlich keine Lust mehr, dir deine Fehler von vor zwanzig Jahren vorzuhalten.“
Zärtlich strich Kendall ihr über die Wange.
„Danke, Emily. Also, die Fortuna wurde von dem Hurrikan auf ein Riff geschleudert. Dadurch entstand ein Leck, und die Jacht ist innerhalb weniger Minuten gesunken. Ich krachte mit dem Kopf gegen die Reling und war kurze Zeit benommen. Ich sah, wie du und einige andere Tauchschüler aus der Kabine gestürmt kamen und über Bord sprangen. Leider konnte ich nicht checken, ob sich noch jemand in dem havarierten Wrack befand. Eine riesige Welle erfasste mich und warf mich ein Stück weit fort. Als ich mir das Salzwasser wieder aus den Augen gerieben hatte, sah ich nur noch aus der Entfernung, wie die Fortuna gesunken ist. Ich hoffe wirklich sehr, dass sich niemand mehr in der Kabine befand. Es ist schon schlimm genug, dass Sam über Bord gespült wurde. Aber ich habe zu dem Zeitpunkt mit beiden Händen das Steuerrad festgehalten und hatte keine Möglichkeit, ihm zu Hilfe zu kommen. Unsere letzte Position war übrigens 33 Seemeilen südwestlich vom East Cape.“
Emily biss sich nervös auf die Unterlippe. Es war also nicht klar, ob Andy noch lebte. Krampfhaft versuchte sie, sich an die letzten Momente vor ihrem Blackout zu erinnern. Andy war in ihrer Nähe gewesen, so viel stand fest. Und Emily hatte Melanie an der Hand gehalten. Aber was war dann passiert?
„Und du hast nach dem Untergang der Fortuna keinen der anderen mehr gesehen, Dad?“
„Nein, du bist die Einzige. Aber es kann trotzdem möglich sein, dass einige von ihnen oder hoffentlich alle die Katastrophe überlebt haben. Wenn man wie wir im Wasser treibt, hat man nur ein sehr geringes Gesichtsfeld. Es ist möglich, dass hinter dem nächsten Wellenberg weitere Überlebende sind. Wir müssen jetzt vor allem die Ruhe bewahren. Die Küstenwache und die Seenotrettung werden schon unterwegs sein, um nach uns Ausschau zu halten.“
„Aber wir hatten doch gar keinen Funkkontakt mehr.“
„Nein, aber wenn ein Boot von den Radarschirmen der Coast Guard verschwindet, dann wissen sie, dass ein Unglück geschehen ist. Allerdings wird dieser starke Hurrikan viele Schäden verursacht haben. Es kann etwas dauern, doch man wird uns nicht vergessen.“
Ob Kendall Emily nur beruhigen wollte? Soweit ihr bekannt war, musste die Küstenwache ein riesiges Seegebiet kontrollieren. Selbst wenn man Flugzeuge und Helikopter einsetzte, war es völlig unklar, wann die Helfer eintreffen würden.
„Ist dir so was schon einmal passiert, Dad?“
„Nein, bisher bin ich in der Hurrikan-Saison immer mit einem blauen Auge davongekommen. Aber ausgerechnet heute, wo ich meine einzige Tochter an Bord habe, geht mein Boot unter. Weißt du was, Emily? Ich glaube nicht an Zufälle. Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, dass es die Fortuna jetzt nicht mehr gibt.“
„Wie meinst du das?“
„Könnte es nicht sein, dass ich ab sofort einen neuen Lebensabschnitt anfangen soll? Ich bin noch nicht zu alt, um mir etwas anderes aufzubauen. Und ich bin nicht in festen Händen, wenn du verstehst, was ich meine.“
Emily riss die Augen auf. Das ging ihr jetzt alles plötzlich viel zu schnell.
„Kapiere ich das alles richtig? Willst du noch einen Neuanfang wagen, mit – mit Mom?“
„Ja, warum nicht? Brenda und ich verstehen uns inzwischen wieder richtig gut. Wir telefonieren oft miteinander und haben uns auch schon dann und wann wieder getroffen. Ich weiß, dass deine Mutter keinen Freund hat. Brenda konnte mir verzeihen, und wenn du es auch kannst, Emily …“
Erwartungsvoll schaute Kendall sie an. Es war eine seltsame Situation. Emily und ihr Vater trieben im Wasser, die Köpfe von den sperrigen Rettungswesten umrahmt. Emily begriff, dass der Kapitän von einem richtigen Familienleben träumte, gemeinsam mit ihr und ihrer Mutter. Vielleicht geriet Kendall aber auch nur in eine solch wehmütige Stimmung, weil er und Emily immer noch in akuter Lebensgefahr schwebten.
Das wurde Emily im nächsten Moment bewusst.
Sie hatte sich nämlich viel zu früh gefreut. Der Hurrikan war keineswegs schon überstanden. Erneut tobte und heulte der Sturm, riss ihnen die Worte von den Lippen. Kendall rief etwas, das Emily nicht verstehen konnte. Er hatte die ganze Zeit ihre Hand gehalten, aber nun wurde die Kraft der Elemente zu stark. Selbst ein so kräftiger Mann wie Emilys Vater konnte nicht
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