Atme - wenn du kannst!
gegen diesen Wirbelsturm ankämpfen. Er musste Emily loslassen und streckte verzweifelt seine Finger nach ihr aus.
Der Kapitän konnte sie nicht mehr erreichen. Emily und ihr Dad waren in zwei entgegengesetzte Strömungen geraten, eine andere Erklärung gab es nicht. Emily strampelte mit den Beinen, aber es war sinnlos. Sie musste mit ansehen, wie Kendall immer weiter von ihr fortgetrieben wurde. Weder er noch sie konnten sich dagegen wehren. Emily brannten die Augen. Sie glaubte, es käme vom Salzwasser. Aber dann bemerkte sie ihre eigenen Tränen. Im Handumdrehen war Kendall zwischen zwei Wellenbergen verschwunden, so als ob ihre Begegnung niemals stattgefunden hätte.
Für einen verrückten Moment glaubte Emily sogar, sie hätte sich das Treffen mit ihrem leiblichen Vater nur eingebildet.
Aber es war Realität gewesen – genau wie dieser Wirbelsturm, der Emily zu zerschmettern drohte.
7. KAPITEL
Emily weinte, aber irgendwann war die Erschöpfung größer als die Trauer und die Einsamkeit inmitten der riesigen Sturmhölle. Die Nacht brach herein, ohne dass Emily etwas davon mitbekam. Sie verfiel in einen Dämmerzustand. Während der Hurrikan sich nun endgültig in die Richtung des amerikanischen Festlandes bewegte, wurde Emily von der starken Meeresströmung weiter hinausgespült.
Realität und Traum vermischten sich. Sie erinnerte sich an kleine Erlebnisse aus ihrer Kindheit, ein Unfall auf der Schaukel, die rosa Torte an ihrem sechsten Geburtstag. Plötzlich sah Emily Andy vor sich. Er lächelte ihr zu. Es war so realistisch, dass sie die Wärme seines Körpers zu spüren glaubte. Doch als sie sehnsuchtsvoll die Arme nach ihm ausstreckte, verschwand er spurlos. Stattdessen begann Emily mit den Zähnen zu klappern. Sie wusste nicht, wie lange sie schon im Wasser gelegen hatte. In den kalten Fluten des Atlantiks wäre sie schon längst erfroren. Doch auch im warmen karibischen Wasser kühlte ihr ausgelaugter Körper allmählich aus. Eine Zeit lang hatte Emily geglaubt, dass sie gleich sterben würde.
Aber die Kälte bewies ihr schmerzhaft, dass sie noch sehr lebendig war. Ihr Körper forderte Wärme und Ruhe, doch beides schien unendlich weit entfernt. Und dann spürte Emily plötzlich Steine unter den Schuhsohlen!
Es war immer noch finstere Nacht. Doch im fahlen Mondschein sah Emily einen Strand vor sich, dessen Sand in der Dunkelheit schmutzig-grau wirkte. Dahinter konnte man vage die Wipfel einiger Palmen sowie Unterholz erkennen. Emily rechnete schon damit, dass auch dieses Bild sich gleich wieder in nichts auflösen würde. Aber der feste Boden unter ihren Füßen war keine Illusion.
Wenig später stolperte Emily ans Ufer. Sie fiel hin, denn ihre Knie waren plötzlich weich wie Pudding. Außerdem fror sie noch mehr, obwohl ihr das kaum möglich erschien. Schließlich stand sie in triefend nassen Kleidern am Strand, und obwohl der Wirbelsturm weitergezogen war, wehte der Wind immer noch sehr stark und sehr kalt.
Da entdeckte Emily einen Steinwurf entfernt ein Wrack.
Im ersten Moment glaubte sie, dass sie die Fortuna wiedergefunden hätte. Aber das stimmte nicht, wie Emily im Näherkommen erkannte. Die Fortuna war leckgeschlagen und gesunken, das hatte Emily mit eigenen Augen gesehen. Außerdem war dieses Wrack nicht weiß, sondern graublau. Außerdem stank es nach Fisch, und Emily sah einige zerfetzte herabhängende Netze. Sie kniff die Augen zusammen. Am Heck konnte sie trotz der schlechten Lichtverhältnisse den Schiffsnamen lesen: Esperanza. Als Heimathafen war Nassau angegeben, die Hauptstadt der Bahamas. Außerdem hing die zerrissene Fahne des Inselstaates am Flaggenstock.
Ob an Bord noch jemand lebte?
Emily fürchtete sich, aber sie musste sich Gewissheit verschaffen. Außerdem fror sie nicht nur, sondern inzwischen wurde sie auch von nagendem Hunger gequält. Die Esperanza steckte in leichter Schräglage im Sand fest. Für die sportliche Emily war es trotz ihrer Ermattung kein Problem, an Bord zu klettern. Aber ihr war ziemlich unheimlich zumute. Wenn sie nun Leichen entdeckte?
Der Fischgeruch wurde noch intensiver. Sie hatte offenbar einen havarierten Fischkutter gefunden, der ebenfalls von dem Hurrikan überrascht worden war. Die starke Strömung, von der auch Emily gepackt worden war, hatte das Boot auf diesen Strand gespült.
An Deck konnte Emily keinen Menschen sehen, weder lebendig noch tot. Die Takelage war teilweise beschädigt, und einige Planken waren zerschmettert. Aber
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