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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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Badeseegeräusche heran und ebbten wieder ab. Glucksen, Schreien, Platschen. Das schnelle Wischen von Kinderfüßen, die über das Gras liefen. Ich war allein, Pauline schon lange nach Hause gegangen, sie musste lernen, wie jeden Nachmittag in diesen Sommerferien. Einmal nur musste ich den Gummifaden mit der Zunge in den Mund ziehen, danach konnte ich Perle um Perle abtasten, umkreisen und eine nach der anderen nach hinten zwischen die Mahlzähne bugsieren, wo ich sie krachend zerbiss, einspeichelte und den süßen Brei schluckte. In den Mulden der Kauflächen lagerten sich Zuckerschichten ab, rosa, weiß und blässlich gelb, die ich noch spätabends auf der Schaukel im Hinterhof mit der Zungenspitze tasten und ablösen konnte.
    Pauline schaukelte nicht, sondern stieß die Spitzen der Sandalen in den Boden und drehte sich langsam um sich selbst. Ich pulte mit der Zungenspitze in den Zuckerschichten auf meinen Zähnen und sah ihr zu. Die Seile der Schaukel wickelten sich umeinander zu einem armdicken Strang, der mit jeder Drehung kürzer wurde, bis ihre Beine nicht mehr an den Boden reichten, sosehr sie sich auch zu strecken versuchte; also zog sie sie ruckartig weg und ließ sich auf dem Schaukelbrett an den gestreckten Armen nach hinten fallen, während sie kreiselte, den Kopf im Nacken, den strudelnden Himmel über sich. Ihre dunklen Zöpfe flogen, sie drehte sich schneller und schneller, bis sich die Seile der Schaukel mit einem Ruck voneinander lösten, sie in einem Satz nach unten hopste und die Fliehkraft sie in die Gegenrichtung trieb, langsamer jetzt, fast träge, den Umkehrpunkt erreichte und wieder zurückkreiselte, die Seile sich wieder voneinander lösten und sich noch einmal in die ursprüngliche Richtung aufwickelten und die Drehungen des Schaukelbretts schwerfälliger wurden, sich in einem müden Schwanken verloren, die Seile sich kaum mehr berührten, dann hing die Schaukel still. Pauline sprang auf und sank, vom Restschwindel gedreht, auf den kalten Pflasterboden in unserem Hinterhof, wo sie auf dem Rücken liegen blieb und in die dunklen Baumkronen blinzelte. Auf der Straße fuhr ein Auto vor, bremste und stieß zurück. Meine Freundin sprang ans Eisentor, an dem es schlüsselte, das sich öffnete, es war ihre Mutter, der sie mit einem Satz auf die Hüfte sprang und sich an sie klammerte mit aller Kraft, die braunen Affenarme um ihren Hals. Die Mutter löste ihre Arme und schob sie von sich. Pauline sah mich traurig an, und ich wusste, woran sie dachte. Der rote Striemen um den Hals der dicken Gine. Ihre vorquellenden Augen, die lange Zunge, die in der Sommerluft tentakelte. Ein Vogel hüpfte übers Pflaster und tschilpte um ein paar Krümel. Ich hatte ihr nicht wehtun wollen, es war nur so, dass ich die Hände nicht mehr öffnen konnte. Als müsste ich etwas zu Ende bringen, das ich vor langer Zeit begonnen hatte. Irgendwann riss Pauline mich an der Schulter und ich ließ los.
    Ich suchte einen Kieselstein, haselnussgroß, und warf mit aller Kraft. Der Spatz flog auf, ich hatte ihn nicht erwischt. Paulines Mutter verschwand mit den Einkaufstaschen im Haus.
    »Meinst du, die Doofe liegt noch da, Josie?«, fragte Pauline und stocherte mit einem trockenen Zweigende in den moosigen Fugen des Kopfsteinpflasters.
    »Schätze schon.«
    Pauline zog den Zweig vor ihrem Hals durch, verdrehte die Augen und streckte mit einem krächzenden Laut die Zunge heraus.
    »Was machen wir jetzt?«, fragte ich.
    »Hast du es jemandem erzählt?«
    »Nein, du?«
    Pauline schüttelte den Kopf. Der Spatz saß wieder da, er ruckte mit dem Kopf und schien uns zu beobachten. »Wir müssen zurück ins Schwimmbad und nachsehen«, sagte sie dann, »aber was soll ich meiner Mutter sagen?«
    »Mathe. Ich ruf dich an und frag, ob du mir bei den Hausaufgaben helfen kannst und komm zu dir. Wenn deine Mutter zum Nachtdienst gegangen ist, schleichen wir weg.« Der Stecken verkantete sich in der Fuge, Pauline drückte ein Ende nach unten, Mooszipfel und Sand spritzten in die Luft, und genau in dem Augenblick öffnete sich das Fenster über uns, und sie warf den Stecken weg.
    »Pauline … Pauli.« Ihr Name klang in der Sommernacht wie eine Bonbonsorte. Zitronengelbe Drops mit Brausefüllung.
    »Ruf mich um halb acht an.« Sie rannte über den Hof, und als die Mutter ihre Schritte hörte, schlug sie das Fenster zu.
    Es geschah an einem dieser heißen Sommerferientage. 1976. Pauline und ich hatten die erste Klasse des Gymnasiums hinter uns

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