Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
hoam«, war alles, was sie noch flüstern konnte. Pauline stieß Gine vor den Kopf. Sie rollte sich zusammen und schlang die Arme über den Kopf.
»Dann geh doch. Heim zur Mama, Dickerchen.« Aber Gine blieb liegen, atmete flach und bewegte sich nicht mehr.
Wir rannten los, und als wir aus dem Wald kamen, schaute die Huber von ihrem Kiosk herüber, als wüsste sie Bescheid.
»Die weiß nichts, komm, wir rennen weg«, sagte ich, doch Pauline sah auf die Uhr am Umkleidehaus, erschrak und ging zurück zu unserer Decke, um sich umzuziehen.
»Meine Mutter wartet, ich muss nach Hause und Englisch lernen. Servus.« Ja, ja, dachte ich. Und dann die fünfzehn Matheaufgaben, die zwei Seiten Übersetzung aus Cäsars Gallienkriegsbericht, das Erdkundeheft abschreiben und die Grenze zwischen den deutschen Staaten auf Pauspapier abzeichnen, die Grenzlandschaften bunt anmalen, sorgsam ins Heft kleben, dann den Schwänzeltanz der Bienen wiederholen, zuletzt die Bodenkür üben, die sie für den Turnunterricht vorbereitete, bevor sie sich ans Klavier setzte, um ihre Etüden zu spielen. Paulines Mutter hatte viel vor mit ihrer Tochter, und diese unterwarf sich scheinbar widerwillig, doch im Grunde war sie mit ihrer Mutter einig, dass sie ohne ein Spitzenabitur niemals das Medizinstudium würde antreten können, das ihre Mutter für sie vorgesehen hatte.
Ich blieb allein zurück und knabberte an der letzten Zuckerperlenkette, die wir Gine wieder abgenommen hatten. Dann sah ich aufs Wasser, rupfte Grasbüschel aus und langweilte mich. Im Holzhaus mit den Umkleidekabinen und Toiletten stieg ich über die Kloschüssel und den Papierhalter an der Wand hoch, um in die angrenzende Kabine zu schauen. Aber da war keiner. Draußen ging ich unter die kalte Dusche, doch schon stand die Huber vor mir, packte meinen Arm und hielt mich mit eisernem Griff. Wo Gine sei, was wir mit ihr gemacht hätten, brüllte sie. »Nichts. Keine Ahnung«, antwortete ich, wand mich und entschlüpfte, glitschig, wie ich war. Zitternd vor Kälte rannte ich zum See, sprang kopfüber hinein und tauchte.
Grünliche Stille. Ich drehte mich auf den Rücken und sah ins Helle über mir, wo das Grün in ein blasses Gelb überging. Da oben waren der kühle Spätnachmittag, die verklingenden Badegeräusche der anderen, die dunklen Waldschatten in den glucksenden Buchten, die glasige Luft und das wirre Leben, in das ich wieder würde auftauchen müssen. Lange Perlenschnüre stiegen aus meinem Mund an die Oberfläche, ich sank tiefer und tiefer, bis ich ohne einen Tropfen Luft in der Lunge abgesunken war, und im schlammigen Grund des Sees sitzend zur Ruhe kam. Abschnellen vom Boden, als der Druck zu groß wurde, nach Luft schnappend auftauchen und mit langen Zügen zum Floß schwimmen, das in der Sonne schaukelte. Hier lag ich, bis ich wieder aufgeheizt war und sicher, dass die Huber nicht nach mir Ausschau hielt. Erst als die Dicke die Klappe ihres Ladens geschlossen hatte und weggegangen war, schwamm ich an Land, raffte meine Badesachen zusammen und fuhr zurück.
Ich beobachtete Paulines Nervosität mit kalter Neugier, als ich gegen acht bei ihr klingelte. Sie winkte mich rein, ihre Mutter war zum Nachtdienst gegangen, nachdem sie flüchtig kontrolliert hatte, ob ihre Tochter ihr Lernpensum abgearbeitet hatte. Im Detail würde sie sich die Ergebnisse vornehmen, bevor sie nach der Arbeit zu Bett ging. Meine Freundin setzte sich wieder vor einen Teller mit kaltem Essen und tunkte die Enden ihrer Zöpfe in den Apfelsaft, um sie dann auszusaugen. Sie durfte den Tisch erst verlassen, wenn sie den Teller leer gegessen hatte. Ich nahm ihn, ging ins Bad, kippte das Essen ins Klo und zog an der Spülkette.
»Komm, ich muss dir was zeigen.« Pauline ging zu dem Holztischchen im Flur, auf dem das Telefon stand. Pauline zog einen Messingschlüssel aus der Tasche und schloss die Schublade auf. Papierzeug. Rechnungen, Quittungen, eine rote Pulmolldose, in der Münzgeld klapperte, ein abgebrochener Radiergummi, Wäscheklammern, eine leere Schachtel Ernte 23. Aus einem länglichen Couvert zog sie ein Blatt Papier und entfaltete es. Ein Lastwagen war darauf abgebildet. Die Vorderlichter waren als comichafte Augen gezeichnet, der Kühler als lachender Mund, dünne Querstriche sollten das Tempo anzeigen, in dem der Lkw fuhr. Möbeltransporte Kleinmayr stand auf der Plane.
»Machen wir Ihnen folgendes Angebot«, las Pauline. » Umzug Privathaushalt von München nach Konolfingen, Schweiz
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