Attentage
Hawl runzelt die Stirn. „Aber nein! Er ist hier aufgewachsen. Ein sehr attraktiver und intelligenter Mann, hat als Ingenieur gut verdient. Es war nur diese Vorstellung, die er wohl von seinen Eltern und Freunden übernommen hat, dass eine Frau zu Hause auf ihren Mann warten soll.“ Ihr Blick zeigt, dass sie nicht recht weiß, was sie von ihrem Besucher halten soll.
Leconte nippt an dem heißen Tee. Mrs. Hawl lehnt sich zurück. „Das wärmt, nicht wahr. Und jetzt erzählen Sie mir mehr davon, wie Sie sich kennengelernt haben. Heather tut ja immer so, als ob es bei ihren Auslandsreisen nur um Zollbestimmungen und Schmuggel geht und sie abends immer todmüde im Hotel ins Bett fällt. Aber anscheinend gibt es da ja auch nette Bekanntschaften.“
Der Commissaire hasst die Situation jede Minute mehr. „Da bin ich überfragt. Sie hat mich aber immer angerufen, wenn sie in Paris war, und war sehr unternehmungslustig.“
„Unternehmungslustig?“ Es ist offensichtlich, dass sie mehr erfahren will.
Leconte erfindet Geschichten von nächtlichen Streifzügen in Paris und Besuchen in Varietés, während er gleichzeitig insgeheim bedauert, all das nie mit Heather erlebt zu haben. Er merkt, dass seine Geschichten immer glaubwürdiger werden, als er Heathers Reaktionen und ihr Lachen beschreibt.
Ein Schnarchen lässt ihn innehalten. Heathers Vater ist im Rollstuhl zusammengesunken und in tiefen Schlaf gefallen. Mrs. Hawl entschuldigt sich: „Ich muss ihn zu Bett bringen.“
„Und ich habe Ihre Gastfreundschaft überbeansprucht.“ Als Mrs. Hawl ihn zur Tür begleiten will, winkt Leconte ab. „Danke, ich finde schon allein hinaus.“
Er zieht sich umständlich die Schuhe an und schließt die Tür nicht ganz. Er bleibt im Flur stehen und lauscht, wie Heathers Mutter Henry im Rollstuhl ins Schlafzimmer, das offensichtlich auf der Gartenseite des Hauses liegt, fährt. Dann schleicht er ins Wohnzimmer zurück. Er hat sich nicht geirrt. Auf der alten Kommode steht, verdeckt von anderen Fotos, das Bild einer mädchenhaften Heather im Hochzeitskleid mit ihrem streng blickenden Ehemann in einem altmodischen Nadelstreifanzug. Mit einem schnellen Griff steckt Leconte es ein. Leise lässt er eine Minute später die Haustür ins Schloss schnappen. Der Regen hat aufgehört, aber der Wind scheint noch strenger zu wehen als zuvor.
MONTAG, 23. APRIL, 5.40 UHR | LONDON, HEATHERS WOHNUNG
Leconte braucht nur zwei Minuten, um mit dem Spezialwerkzeug den Schließzylinder an der Glastür zum Garten von Heathers Wohnung im Erdgeschoß eines Apartmentblocks zu entriegeln. Die akkubetriebene Sperrzeugpistole surrt leise im Schloss und eine Schraubenzieherumdrehung später lässt sich die Tür ohne Beschädigung öffnen. Er tritt ein und schließt sie hinter sich.
Schuhe, die im Vorraum liegen, und ein hingeworfenes Kleidungsstück auf einem Tischchen neben der Garderobe deuten auf einen überstürzten Aufbruch hin. Heather war offensichtlich in Eile gewesen, um rechtzeitig das Flugzeug zum FISA-Treffen in Frankfurt zu erreichen.
Das Wohnzimmer ist mit einer hellroten Designercouch und einem Stahlglasverbau, in dem ein flacher Fernsehschirm in Augenhöhe montiert ist, wesentlich moderner eingerichtet, als es Leconte erwartet hat. Doch im Esszimmer neben der offenen Küche im bürgerlichen Landhausstil dominieren dunkle Holzsessel mit klaren Formen und ein massiver Eichentisch. Es scheint, als ob zwei verschiedene Personen die Wohnung eingerichtet hätten, und das erinnert Leconte daran, dass es eine Seite von Heather gibt, die ihm noch völlig fremd ist. Er zähmt seine Neugier, Heathers Bücher in den Regalen im Vorraum, die bis zur Deckenhöhe reichen und an denen eine kleine Leiter montiert ist, näher zu begutachten, und konzentriert sich auf die Suche nach Dokumenten und Unterlagen.
Gezielt und schnell durchsucht er die Wohnung, indem er den Inhalt von Laden und Schränken einfach auf den Boden wirft. Einmal hält er kurz inne, als er eine verschlossene Metallkassette entdeckt, die hinter einigen Blusen versteckt ist. Er bricht sie mit einem kurzen und kräftigen Schraubenzieher auf, den er mitgebracht hat. Darin befinden sich etwas altmodischer Schmuck und Goldmünzen. Leconte will die Kassette gleich wieder zurückstellen, entdeckt aber dann einen Ring, der sein Interesse weckt. Auf der Innenseite ist das Datum 7. 8. 92 eingraviert. Leconte begreift, dass er Heathers Ehering in der Hand hält. Er wirft ihn in die Kassette
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