Attentage
damit inoffiziell suspendiert. Damit möchte ich dich auch bitten, den Raum zu verlassen.“
Purront blickt Leconte etwas hilflos an. Dieser signalisiert ihm durch ein Kopfnicken sein Einverständnis, obwohl er keinen Einfluss mehr auf diese Entscheidung besitzt. Als der Commissaire langsam den Raum verlässt, hört er noch den nächsten Satz von Stier.
„In Heathers Familie gab es keinen aktuellen Todesfall, aber dafür fanden wir in ihrer Tasche das Aufputschmittel Captagon und ein Antidepressiva …“
Als Leconte in seinem Hotelzimmer ist, wählt er die Nummer seiner Fluglinie. „Ich möchte meinen Flug um 19.34 Uhr von Frankfurt nach Paris stornieren und einen anderen Flug buchen – nach London.“
SONNTAG, 22. APRIL, 18.20 UHR | LONDON, HAUS VON HEATHERS ELTERN
Es ist einer dieser regnerischen Tage in London, an denen der wechselnde Wind den Passanten die Tropfen unberechenbar von vorne und dann wieder überraschend von der Seite ins Gesicht peitscht. Die Themse hat sich in abweisenden Nebel gehüllt und nur die Regenschirme der Passanten bieten ein seltsam buntes Bild im trostlosen Grau. Leconte will das kleine Hotel in der Pembridge Street ohne Schirm verlassen, aber der strömende Regen treibt ihn wieder zur Rezeption zurück. Natürlich gibt es dort Regenschirme zu kaufen, die aber unnötigerweise mit Logo und Adresse des Hotels bedruckt sind und ihn damit nicht nur zum unfreiwilligen Werbeträger machen, sondern auch gut sichtbar allen verkünden, wo er abgestiegen ist. Leconte verzichtet und stapft mit hochgeschlagenem Kragen durch den Regen.
Es hat ihn viel Überredungskunst am Telefon gekostet, bis ihm Purront widerstrebend die Londoner Adresse von Heather und die ihrer Eltern durchgegeben hat. Es war spürbar, dass er zwischen seinem Gehorsam gegenüber seinem Pariser Chef und seinem Pflichtgefühl der FISA gegenüber hin- und hergerissen war.
Lecontes Hotel liegt zufällig nur einige Gehminuten von der Wohnung von Heathers Eltern entfernt, als ob es von Anfang an so geplant war. Das macht es allerdings lächerlich, im Hotel ein Taxi zu bestellen und zwingt ihn trotz Wolkenbruch zu dem kurzen Spaziergang.
Die vom Regen leer gefegte Colville Road ist eine ruhige Wohnstraße, wo sich die roten Ziegelhäuser bis auf die Vorgärten und die wohl später angebauten Garagen völlig gleichen. Als Leconte bei Nummer 28 klingelt, rinnt ihm das Wasser schon in den Kragen und er spürt, dass auch sein linker Schuh bereits Feuchtigkeit durchlässt. Die Eingangstür öffnet sich nur einen Spalt, sie ist mit einer Kette gesichert.
„Guten Abend, Mam“, sagt Leconte höflich, „ist Ihre Tochter Heather zu Hause?“
Die Tür schließt sich, um dann ganz geöffnet zu werden. Leconte ist von der Ähnlichkeit zwischen der Mutter und Heather überrascht. Sie ist hochgewachsen und schlank, aber vor allem ist ihr Heather wie aus dem Gesicht geschnitten. Ihr gepflegtes Äußeres und dezentes Make-up lenken beim ersten Blick von den Schatten unter ihren Augen ab. „Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“
„Monsieur Renard. Ich habe Ihre Tochter vor einigen Jahren in einem Theater in Paris kennengelernt“, lügt Leconte, „und sie hatte mich damals eingeladen, mich zu melden, wenn ich in London bin. So habe ich einfach mein Glück probiert.“
„Sie hat Ihnen diese Adresse gegeben? Das muss schon eine Ewigkeit her sein. Sie wohnt schon seit ihrer Heirat nicht mehr hier.“ Als sie Lecontes erschrockenes Gesicht sieht, macht sie eine einladende Bewegung. „Sie sind ja völlig durchnässt. Kommen Sie auf eine Tasse Tee herein. Heather ist bei einer Fortbildung im Ausland. Sie ist sehr viel unterwegs, seit sie beim Zollamt arbeitet. Jetzt kommen Sie schon rein.“
„Sie arbeitet jetzt beim Zollamt?“, fragt Leconte, während er sich seiner Schuhe entledigt.
„Bei der Zollpolizei“, sagt die Mutter. „Hat Sie Ihnen das nicht erzählt?“ Sie klingt plötzlich misstrauisch.
„Ich wusste, dass sie bei der Polizei arbeitet“, wehrt Leconte ab, „aber ich dachte, sie wäre eine ganz normale Polizistin.“
„Sie hat schnell Karriere gemacht“, erklärt die Mutter. Stolz schwingt in ihrer Stimme mit.
Als Leconte das Wohnzimmer betritt, begrüßt ihn ein weißhaariger Mann im Rollstuhl mit einem schwachen Heben seiner linken Hand.
„Henry kann seit seinem Schlaganfall vor drei Jahren nicht mehr sprechen“, sagt Heathers Mutter hinter ihm, „aber er versteht alles.“ Dann seufzt sie: „Er
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