Attentage
Purront nochmals.
„Mein Hähnchen wird serviert“, sagt Leconte, „ich muss aufhören.“
„Alles klar“, sagt Purront und seufzt so laut, dass Leconte sein Handy reflexartig vom Ohr weghält.
Nach dem Essen eilt Leconte in das chaotische Büro des Dolmetschers, dessen Schreibtisch mit Vokabelbüchern, Manuskripten und losen Zetteln übersät ist. Der ägyptische Buddha lehnt sich bei seinem Kommen bedeutungsvoll in seinem schwarzen Drehsessel mit den abgewetzten Lehnen zurück und liest ihm seine handgeschriebenen Notizen vor.
„Es geht um eine Adoptionsgeschichte“, sagt er. „Eine Engländerin namens Heather Hawl hat ihren Sohn unmittelbar nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Das hat sie offenbar schon nach einigen Monaten bereut. Doch es war nicht mehr rückgängig zu machen. Ihr Sohn wurde von einem kinderlosen Paar aus Pakistan adoptiert, das in Deutschland lebte. Heather Hawl hat von den Behörden aber nicht mehr über die Adoptiveltern erfahren. Nur einmal im Jahr wurde sie über die schulischen Fortschritte ihres Sohnes informiert.
Das Paar ging nach einigen Jahren wieder nach Pakistan zurück. Als der Sohn 18 war, hat er von ihnen erfahren, dass er adoptiert wurde, und Kontakt mit der Mutter aufgenommen. Das lief alles über die Behörden in Pakistan. Dieser Akt, den Sie mir gegeben haben, dokumentiert die Entwicklung, bis der Kontakt zwischen Mutter und Sohn hergestelltwurde. Laut letztem Vermerk wurden die Unterlagen dann dem Sohn von der Behörde ausgehändigt. Wollen Sie, dass ich Ihnen den gesamten Akt übersetze?“
Leconte ist von der Fülle an Informationen wie erschlagen. „Ja“, sagt er – und Sekunden später: „Nein, das ist nicht nötig!“
Er nimmt die handgeschriebenen Zettel und den Aktenordner. „Haben Sie nicht etwas vergessen?“ Der Ägypter steht bei dieser Frage auf. Falls es ein Versuch ist, bedrohlich zu wirken, ist er zum Scheitern verurteilt. Leconte hatte aber nie vor, ohne Bezahlung zu gehen. Er holt ein vorbereitetes Kuvert mit Geld aus seiner Sakkotasche und legt es auf den einzig freien Platz auf dem Schreibtisch. Er ist schon bei der Tür, als ihm noch etwas einfällt: „Wie heißt er?“
„Wer? Ach, der Junge. Saleh Faruk.“
„Der Junge ist heute ein Erwachsener von fast 20 Jahren“, knurrt Leconte.
„Sie mögen ihn nicht?!“ Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage.
„Ich kenne ihn nicht einmal“, sagt Leconte, „und Sie mich übrigens auch nicht, falls wir uns je wieder begegnen.“
Auf der Straße versucht Leconte seine Gedanken zu ordnen. Heather war offenbar von ihrem ägyptischen Mann schwanger gewesen und hatte es erst nach der Scheidung entdeckt. Sie hatte beschlossen, das Kind zu bekommen. Das erklärte auch die zahlreichen Besuche beim Gynäkologen und den Krankenhausaufenthalt. Sie hatte das Kind gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben, war aber damit seelisch lange nicht fertig geworden. Der Kontakt war ihr nicht möglich gewesen, aber als er 18 geworden war, hatte ihr Sohnsie aus Pakistan kontaktiert. Das erklärte die Anrufe und die Flüge nach Pakistan. Und auch das Schweigen von Heather.
Aber wo war Saleh Faruk jetzt? Und was hatte es mit Heathers Anruf auf sich, den er zufällig gehört hatte? Als Leconte mit dem Aufzug in den 4. Stock des Polizeihauptgebäudes, in sein Büro, fährt, hat er eine endgültige Entscheidung getroffen. Auch wenn die FISA ihn abgesetzt hat, so leitet er doch noch immer die Abteilung der Police spéciale in Paris. Und ab jetzt gibt es für sie scheinbar einen neuen Hauptverdächtigen als Drahtzieher für das Attentat auf dem Pariser Bahnhof. Natürlich hatte Saleh Faruk damit nichts zu tun. Und selbstverständlich konnte ihn das seinen Job kosten. Sicherlich war es auch nur eine Frage der Zeit, bis die FISA entdeckte, dass er auf eigene Faust mit seiner Abteilung in einem Fall recherchierte, von dem er offiziell abgezogen worden war. Vermutlich würden sie in einigen Tagen herausfinden, dass er bei Heathers Eltern gewesen ist und in ihre Wohnung eingebrochen ist.
Leconte ist klug genug, zu wissen, dass er Grenzen überschritten und einige rote Ampeln missachtet hat. Er beginnt die Kontrolle zu verlieren und weiß, dass es nun eigentlich Zeit für eine Vollbremsung wäre, um einen drohenden Crash noch überleben zu können. Doch es geht ihm wie einem Autofahrer, der ein Hindernis in einer unübersichtlichen Kurve sieht und beschließt, das Gaspedal durchzutreten, um auf die
Weitere Kostenlose Bücher