Attentage
Heather vielleicht tatsächlich einige Zeit gelebt hat. Wenn es etwas gibt, das sie aus der Bahn geworfen hat, dann wird es aus diesen Unterlagen nicht ersichtlich. Lecontes letzte Hoffnung ist der Ordner, den er nicht einmal ansatzweise lesen kann. Es sind fast 100 Seiten in arabischer Schrift, auf denen einige Stempel und Unterschriften prangen. Ob Heather diese Unterlagen lesen konnte? Leconte weiß instinktiv, dass ihn der Inhalt des Ordners der Wahrheit näherbringen wird.
Im Pariser Telefonbuch hat er einige Übersetzer gefunden und angerufen. Seine Bedingung war ein sofortiger Termin gewesen und er bot genug Geld an, um das Angebot attraktiv zu machen. Nur Mister Ramesh hat ihm sofort zugesagt und überfliegt nun die ersten Seiten.
„Es geht hier um die Adoption eines Jungen“, sagt er dann. Leconte sieht ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
„Sind Sie der Vater oder der Adoptivvater? Sie müssen mir bitte erklären, was Sie mit dieser Information tun möchten. Ich will keine Schwierigkeiten bekommen.“
„Sie bekommen keine Probleme. Ich bin Polizist“, knurrt Leconte und hält ihm seine Dienstmarke nur flüchtig hin, damit Ali keine Dienstnummer erkennen und sich merken kann.
„Die Polizei hat aber ihre eigenen Übersetzer. Warum kommen Sie dann zu mir?“ Das Misstrauen in der Stimme ist unüberhörbar.
„Ich habe nicht gesagt, dass es für die Polizei ist, sondern dass ich von der Polizei bin“, sagt Leconte. „Übersetzen Sie jetzt endlich, ansonsten bekommen Sie wirklich Schwierigkeiten. Wir können uns zum Beispiel Ihre Buchhaltung einmal genauer ansehen.“
Die Drohung ergibt eigentlich keinen Sinn, denn Leconte hat mit der Steuerbehörde nicht das Geringste zu tun, aber sie wirkt. Der Ägypter fällt in sich zusammen und wirkt dadurch noch runder. Er blättert wortlos Seite um Seite um.
Nach einer Viertelstunde beschließt Leconte, doch nicht mehr im Büro zu warten. „Ich esse eine Kleinigkeit im Bistro unten“, sagt er und fügt versöhnlich hinzu: „Soll ich Ihnen etwas mitbringen?“
Der Übersetzer schüttelt den Kopf, ohne den Commissaire anzublicken. Es ist offensichtlich, dass er verärgert ist.
„Na, dann nicht“, sagt Leconte. „Und machen Sie sich keine Kopien, während ich weg bin. Ich komme unerwartet wieder.“
„Machen Sie sich nicht lächerlich. Ich wüsste nicht, wer an solch langweiligen Unterlagen Interesse hätte“, sagt der Ägypter trotzig. „Und vergessen Sie lieber nicht, dass Sie versprochen haben, danach sofort in bar zu bezahlen.“
Im Bistro ist wenig los. Leconte sucht sich einen ruhigen Tisch und ruft Purront von seinem neu erworbenenWertkartenhandy im Frankfurter Airporthotel an. „Geh bitte zur Rezeption“, sagt er zu ihm, „ich rufe dich dort in fünf Minuten an.“ Leconte vermutet, dass auch Purront von den FIS-AKollegen routinemäßig abgehört wird.
„Du bist nicht zufällig gestern in Heathers Wohnung eingebrochen?“, fragt sein Assistent einige Minuten später, als er Lecontes Anruf von der Rezeptionistin entgegennimmt.
Leconte will ihn weder anlügen noch die Wahrheit sagen. „Wäre ich zu so etwas fähig?“
„Ja“, sagt Purront und dann nach einer Pause: „Hör zu, sie haben herausgefunden, dass Heather seit eineinhalb Jahren rege Kontakte nach Pakistan hat. Sie ist viermal nach Lahore geflogen und hat 186 Telefonate dorthin geführt. Und niemand von uns wusste etwas davon. Wir versuchen herauszufinden, was sie dort gemacht hat. Uns gibt sie keine Auskunft. Sie sagt, das sei ihre Privatangelegenheit.“
„Wir wussten auch nicht, dass sie vor 20 Jahren einige Monate mit einem Ägypter verheiratet war“, sagt Leconte.
Es ist still in der Leitung. „Ja“, sagt Purront, der es Leconte hatte verschweigen wollen, „das steht in den Akten. Aber er war sauber, kein Extremist, völlig unpolitisch. Ein Ingenieur bei einem internationalen Telekommunikationsunternehmen in Kairo. Die Ehe hielt nur sehr kurz.“
„Vier Monate!“
„Du warst also in ihrer Wohnung!“
„Ich war bei ihrer Mutter!“
Purront seufzt. „Das bringt doch alles nichts mehr. Die Kollegen durchleuchten ihr Leben bis in jede Einzelheit. Wir werden in einigen Tagen mehr über Heathers Leben wissen, als sie selbst. Du solltest in Paris sein und sie einfach vergessen.“
„Ich bin in Paris“, sagt Leconte, „und habe gerade in einem netten Bistro Coq au Vin bestellt. Zufrieden?“
„Und du warst nicht in ihrer Wohnung in London?“, fragt
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