Attentage
liebt es, seiner Tochter stundenlang zuzuhören, wenn sie uns besucht. Aber Heather hat so selten Zeit und sonst kommt so gut wie niemand zu Besuch.“
Leconte versucht die neuen Informationen zu verarbeiten. Er ärgert sich, dass er nicht in Betracht gezogen hat, dass Heather ihm auch wichtige private Dinge verschwiegen hat. Und es schmerzt ihn, dass er alles in Frage stellen muss. Jedes Wort, jede Geste, jede Liebkosung und selbst ihr Lächeln waren offenbar gekonnte Schauspielerei. Es verstört ihn, dass sie verheiratet ist. Niemand hatte wohl eine Ahnung davon, allerdings hatte er sie auch nie danach gefragt. Doch das passte nicht zum Bild, es war eine neue Facette in einem rätselhaften Leben. Er musste herausfinden, was die Motive hinter dem Verrat waren. Nicht weil es die FISA wissen musste, sondern weil er eine Erklärung für sich selbst brauchte, um zumindest ansatzweise verstehen zu können, was sie angetrieben hatte, mit seinen Gefühlen zu spielen und ihn bei Bedarf skrupellos zu verletzen.
„Wie schade“, sagt Leconte, „ich hatte schon lange keinen Kontakt mehr. Ehrlich gesagt, wusste ich nicht, dass Heather geheiratet hat.“
„Dann hätte ich Ihnen das wohl gar nicht sagen sollen …“ Die Mutter hält sich in gespieltem Schrecken die Hand vor den Mund. „Sie hat nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen angenommen. Das ist schon fast 20 Jahre her. Sie war auch nur einige Monate mit Youseff verheiratet. Er war eine große Enttäuschung. Vor der Hochzeit hat er sie auf Händen getragen, verwöhnt und beschenkt und dann hat er sie schon in den Flitterwochen tyrannisiert. Er hat sogar verlangt, dass sie ihre Arbeit völlig aufgibt und zu Hause bleibt. Dann sprach er plötzlich auch davon, dass sie mit ihm eines Tages nach Ägypten auswandern soll! Aber ich rede viel zu viel und Sie haben noch immer keinen Tee.“
Leconte ist froh darüber, dass er in der rostbraunen Sitzgarnitur versinken kann, während die Mutter in der Küche verschwindet. Heathers Vater starrt ihn an und hebt wieder die linke Hand. Ein Mundwinkel verzieht sich und soll wohl ein Lächeln andeuten. Leconte versucht einen freundlichen Blick, der wohl eher zu einer Grimasse wird. Er ist erstaunt darüber, dass Heather mit einem Ägypter verheiratet war. Aber die FISA überprüft jeden Mitarbeiter und ein Ehemann mit bedenklicher Vergangenheit wäre ein Hinderungsgrund für eine Aufnahme. Youseff musste daher völlig unverdächtig gewesen sein, denn sonst wäre Heather niemals zur Leiterin der britischen FISA-Gruppe aufgestiegen. Er merkt, dass er auf diesen Youseff eifersüchtig ist, und hasst sich dafür, so kindisch zu sein.
Leconte lässt seinen Blick langsam über Spitzendecken, Drucke von englischen Landschaftsbildern, ein Familienfotomit einer kleinen Heather, eine alte Kommode, auf der eine Messingstanduhr, weiße Keramikpferde und weitere gerahmte Fotos stehen, gleiten. In dieser kleinbürgerlichen, behüteten Atmosphäre ist Heather also aufgewachsen. Vielleicht wollte sie dem einfach nur entrinnen, in eine andere Kultur, die ihr bunter und lebendiger erschien.
Als Heathers Mutter eine dampfende Teekanne, Tassen mit Goldrand und einen Teller mit trockenen Keksen auf den Couchtisch stellt, sagt sie: „Ich unterhalte mich oft tagelang mit niemandem, darum rede ich so viel. Er“ – sie wirft einen freundlichen Blick auf Henry – „hört zwar zu, aber das ist ja mehr ein Selbstgespräch. Heather ruft auch nur einmal in der Woche an und einmal melde ich mich. Aber gestern war sie wieder einmal nicht erreichbar und hat auch bis jetzt nicht zurückgerufen. Das macht sie ansonsten immer, zumindest am nächsten Tag!“
Sie schenkt Tee ein und fragt dabei: „Und wo spielen Sie, Monsieur Renard?“
Leconte kann die Frage nicht einordnen. „Was meinen Sie, Mrs. Hawl?“
„Theater, in welchem Theater Sie spielen. Und nennen Sie mich einfach Charlotte.“
Leconte begreift das Missverständnis. „Nein, ich bin kein Schauspieler. Ich habe Heather beim Besuch einer Theateraufführung in der Pause kennengelernt.“
Mrs. Hawl scheint nachdenklich. „Ich wusste gar nicht, dass sie so kontaktfreudig ist. Aber in Paris, da ist man wohl einfach anders.“
Leconte fühlt sich unwohl. Das Gespräch nimmt eine Richtung, die ihn immer mehr in Erklärungsnotstand bringt. Er setzt alles auf eine Karte. „Heather hat mir wohl nie vonihrem Ehemann erzählt, weil sie sich schämte, einen Ausländer geheiratet zu haben.“
Miss
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