Attila - Die Welt in Flammen
wieder, sie redete wirr, wiederholte dauernd einen alten Reim: «Auf Erden lebt so manches Paar, das liebte sich von Herzen zwar, und lebt getrennt doch Jahr um Jahr.»
Mit einem Mal setzte sie sich halb auf und starrte ihn an. «Lasst uns wegreiten.»
«Das werden wir», erwiderte er leise. «Sobald es Euch bessergeht.»
Eine ihrer Dienerinnen bettete sie mit sanftem Druck wieder aufs Kissen.
«Weit weg», murmelte die Kaiserin. «Lasst nicht zu, dass der Engel der Geschichte uns bis zum bitteren Ende quälen darf!»
Beunruhigt sah das Mädchen den General an. Er schickte sie mit einer Kopfbewegung hinaus.
«Irgendwo gibt es einen Ausweg», murmelte Athenais kaum hörbar. Ihr schwarzes Haar war von einzelnen grauen Strähnen durchzogen und klebte ihr am Gesicht.
«Ihr solltet Euch ausruhen», sagte er. Und dann, unter Missachtung sämtlicher Regeln der Hofetikette, streckte er seine große narbige Hand aus und strich ihr das Haar von der Wange. Er nahm den feuchten Lappen, der am Rand des Beckens neben ihr hing, und legte ihn ihr auf die Stirn. Sie atmete tief, schien jetzt ruhiger.
«Irgendwo gibt es einen Ausweg», wiederholte sie leise. «Irgendwo wachen wir eines Morgens auf und sind den Klauen dieses Albtraums entronnen.»
Er wollte nicht hören, was sie da sagte, konnte sie aber auch nicht allein lassen.
«In zwei oder drei Generationen wird all dies hier zu Ende sein.»
Sie sah ihn aufmerksam an, und da wusste er, dass auch sie wusste, wer er war. So schlimm waren ihre Fieberträume nicht. «Rom und sein Reich … all das geht zu Ende. Kannst du das nicht sehen, Aëtius? In zwei, drei Generationen werden diese Dinge nur noch in der verklärten Erinnerung alter Männer, von Mönchen und Gelehrten fortbestehen, die in eiskalten, nur vom Tageslicht erleuchteten Zellen von einem vergangenen goldenen Zeitalter träumen, vom Königreich Gottes und von Christos Pantocrator, der vom Himmel herabsteigen und ihre Seelen in eine bessere, weit bessere Welt als diese hier führen wird. Und warum sollten sie diesen Traum denn nicht träumen? Denn die Gegenwart wird nichts als Staub, Dunkel und Asche sein. Über ganz Europa verlöschen die Lichter, bald kommt die Finsternis. Nur an ein paar vereinzelten Orten flackert noch eine Kerze. Doch der starke, kühne Traum, der Rom in seiner Macht und Jugend war», sie packte ihn beim Handgelenk, «die Jahrhunderte voller Zuversicht und Stolz, die sind dahin. Es ist vorbei, und nur noch Dunkelheit und Unwissenheit haben das Sagen.»
Sanft löste er sich aus ihrer Umklammerung und legte ihren Arm zurück an ihre Seite. In der Ecke sahen ihnen die Dienerinnen im Dunklen zu.
«Die Barbaren strömen über die Grenzen», murmelte sie und fiel wieder in ihre Fieberphantasien. «Oder sie höhlen das Reich von innen her aus, und wie im Traum stolpern die Menschen vorwärts, die lebendigen Toten, deren Zivilisation längst zu Ende gegangen ist, die an nichts mehr glauben. Eine Geisterkultur, die nur durch Bequemlichkeit, Trugbilder und Wohlstand am Leben erhalten wird.»
Die Phantasien der Sterbenden, so heißt es, sind die allermächtigsten.
Als Gamaliel wiederkehrte, sprang Aëtius auf und ging auf ihn zu. Sie unterhielten sich eine Weile leise im Schatten, dann braute der alte Arzt noch mehr von seinem Weidenextrakt und fügte Ingredienzen aus noch zwei Gefäßen hinzu. Eine der Dienerinnen hielt den Kopf der Kaiserin empor, diese trank und schlief dann ein.
Aëtius wich nicht von ihrer Seite, obwohl er völlig erschöpft zu sein schien.
«Ihr fordert von mir die Zusage, dass sie es schaffen wird», sagte Gamaliel.
Aëtius erwiderte nichts.
«Nun», sagte der alte Mann. «Ihr kennt den alten zynischen Spruch:
Ubi tre physici, due athei
– Wo drei Doktoren sind, finden sich zwei Atheisten darunter. Nun, ich will der dritte sein. Gott sei mit uns, die Wege des Herrn sind unergründlich.» Er legte Aëtius die Hand auf den Arm. «Ein Kriegsherr braucht einen scharfen Verstand, und das bedeutet: einen guten Schlaf.»
Gegen seinen Willen befolgte Aëtius zum ersten Mal seit Jahrzehnten den Rat eines anderen.
15. GEFANGENE
N ur wenige Stunden später wurde der General aus dem Schlaf gerissen.
«In der ganzen Ebene brennen Lagerfeuer.» Es war Prinz Theoderich.
Aëtius warf sich den Umhang über, und sie eilten nach draußen. Es war eine stockfinstere Nacht, kein Mondlicht schien, und Wolkenfetzen verdunkelten sogar die Sterne. Jemand wollte ihm mit der Fackel den Weg
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