Attila - Die Welt in Flammen
Herr. Wenn sie noch weiter als zweihundert Meilen weit weg sind, dann vermutlich nicht.»
Aëtius grübelte. Das Wasser aus den Aquädukten floss noch immer, sie waren also nicht zerstört worden. Vielleicht hatten sie ja Glück.
Andere Gedanken sprach er laut aus: «Sollten sie es spüren, so wird es für sie ein Zeichen sein, dass Astur seine Feinde vernichten will. Attila wird unsere rechtmäßige Bestrafung darin sehen. Und dann sind sie in Windeseile hier. Doch es ist immerhin möglich, man weiß ja nie, dass sie noch nichts von unserem Unglück erfahren haben.»
«Was sollen wir nun tun?», fragte Tatullus. «Außer uns zu Tode zu kämpfen.»
«Außer uns zu Tode zu kämpfen», wiederholte Aëtius, «ein Schicksal, das uns höchstwahrscheinlich ereilen wird, können wir auch die Mauern wieder aufbauen.»
Die Männer starrten ihn durchdringend an.
«Wir haben eine Million Menschen zur Verfügung, die augenblicklich nichts anderes tun als wehklagen und beten. Wir lassen sie arbeiten. Jeder Idiot kann lernen, wie man eine Mauer errichtet.»
Sein Blick schweifte über einen Teil der Mauer, der noch stand, und fiel dann auf einen alten Grabstein, der dazu gedient hatte, einen Schwachpunkt abzustützen. «Zum Gedenken an Crescens», stand dort in ungelenken Buchstaben, «den Ölhändler von der Pallas-Säulenhalle, geboren an der Mündung der Donau, ein lebenslanger Anhänger der Blauen.» Auf die Mauer daneben hatte jemand ein Graffiti gekritzelt: «Es leben die Grünen! Nieder mit den Blauen!»
Aëtius’ Miene nahm wieder ihren grimmig entschlossenen Ausdruck an.
«Stellt zwei Mannschaften zusammen», rief er. «Jeder in dieser Stadt ist beinahe so besessen von Wagenrennen wie von der Mutter Gottes. Jeder in der Stadt ist entweder Anhänger der Grünen oder der Blauen. Befehlt allen Grünen, sich beim Marmorturm einzufinden. Befehlt allen Blauen, sich nördlich vom Chorakloster zu versammeln. Dann tragt ihr jedem Maurer in der Stadt auf, ihnen Anweisungen zu geben. Lasst uns einen Wettstreit beginnen.» Er ließ den Blick über ihre ungläubigen Gesichter schweifen. «Ihr meint, dies sei nicht der richtige Zeitpunkt für Wettkämpfe? Der Kampfgeist zwischen Grünen und Blauen ist eine wunderbare Sache!» Und dann knurrte er noch: «Wenn sie sich nicht vorher in den Straßen gegenseitig umbringen.»
Seine Männer starrten ihn immer noch begriffsstutzig an.
«Rührt euch!», brüllte er sie an.
* * *
Die Kundschafter meldeten, dass noch kein Feind gesichtet worden war. Noch immer floss aus den großen Aquädukten Wasser in die Zisternen. Es war ein Wunder. Das Erdbeben war ein schreckliches Unglück, aber nun, so schien es, hatte Gott sich eines Besseren besonnen. Gott, der mit einem Atemzug segnete und verfluchte.
So wie er für Josua die Sonne am Himmel stillstehen ließ, so schien er nun die Ankunft der Hunnen hinauszuzögern. Hätten sie jetzt angegriffen – wenn sie es denn gewusst hätten –, so wäre die Stadt innerhalb von Stunden die ihre gewesen.
So aber wurden die Bürger der heiligen Stadt Byzantium, Männer, Frauen und Kinder jeden Ranges, zu Steinmetzen und Maurern. Die Kinder trugen Eimer mit Wasser und kleine Beutel mit Ton und Sand. Ältere Männer und Frauen mischten den Mörtel. Unter der Anleitung erfahrener Maurer suchten die stärksten Männer solide Steinbrocken und setzten sie erneut zusammen. Improvisierte Kräne wurden aus herabgestürzten Balken errichtet, aus eingestürzten Häusern oder aus Gebälk, das mit Seilen zusammengeschnürt wurde. Maultiere wurden ins Joch gepresst und mussten hart arbeiten – keines aber wurde dabei zu Tode gequält. Ihre Kraft war zu kostbar, um sie zu verlieren. Auf den verbliebenen Türmen suchten die Wachen und die Hilfssoldaten, die Wolfskrieger und die Artillerie unablässig den Horizont ab. Es war nichts zu sehen. Die Aquädukte flossen. Es war ein Wunder.
Aëtius ließ den Arbeitern Wasser bringen, aber nichts zu essen. «Wir essen bei Einbruch der Dunkelheit, nicht vorher. Ihr könnt den ganzen Tag über mit leerem Magen arbeiten. Trinkt Wasser, das genügt.» Als es schließlich Nacht wurde, fuhren viele nach ein paar hastigen Bissen Brot und Fleisch im Fackelschein mit der Arbeit fort. Mit ihren schwitzenden, vor Anstrengung verzerrten Gesichtern sahen sie aus wie Arbeiter in der Hölle.
«Diese Byzantiner», grummelte Tatullus, wider Willen beeindruckt, «und ich dachte immer, sie würden nichts anderes tun als beten und
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